Veranstaltung: | 40. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | KV Ansbach (dort beschlossen am: 19.09.2016) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 26.09.2016, 22:05 |
V-07: „Beteiligungsrevolution“ wagen!
Antragstext
Es ist Ziel der Politik von Bündnis 90/Die Grünen, eine breite und tiefgreifende
Konsultation der Bürgerschaft, die Entscheidungsverfahren verpflichtend vorangestellt und
nachgeordnet ist, auf allen Bürokratie- und Verwaltungsebenen einzuführen und durchzusetzen.
Hierzu sind beratende Bürgerbeteiligungsverfahren gesetzlich verankert für Planung und
Projektierung aller Vorhaben vorzusehen. Dies gilt für Infrastrukturentscheidungen, die
Errichtung/ Erweiterung/Sanierung von Gebäuden und Anlagen im Bereich Verwaltung, Bildung,
Sport, Daseinsvorsorge, Kinder- und Seniorenbetreuung, Verkehrswege und -systeme. Eine
Beteiligung der Bürgerschaft erst im Zuge von Genehmigungsverfahren hat sich als
unzureichend und unbefriedigend erwiesen! Getroffene Entscheidungen müssen zukünftig
verpflichtend im Spiegel der im Beteiligungsprozess ausgeführten Diskurse abgewogen und
begründet werden. Bürgerbeteiligung muss mehr sein als die Möglichkeit, bereits eingeleitete
Projekte auf die Einhaltung rechtlich normativer Vorgaben hin zu überprüfen!
Zur Absicherung und Entwicklung strukturierter und geordneter Verfahren der beratenden
Bürgerbeteiligungsprozesse sind auf allen betroffenen Hierarchieebenen unabhängige und zur
Neutralität verpflichtete Koordinierungsstellen einzurichten. Aufgabe dieser soll es sein,
Leitlinien für eine konsultative Struktur in Gesetzen und Verordnungen sowie der
öffentlichen Projektentwicklung zu entwerfen und fortzuschreiben. Die Koordinierungsstellen
sollen zudem die Partizipationskultur fördern, frühzeitig (bereits zu Beginn von
Projektierungsüberlegungen) alle anstehenden Vorhaben öffentlich machen und
Konsultativverfahren organisieren sowie begleiten.
Der bestehende „Beteiligungsstau“ - ausgelöst von einer Politik, die Entscheidungen oft als
alternativlos beschreibt und emotionslos exekutiert, - fördert Politikverdrossenheit sowie
Populismus und muss überwunden werden.
Begründung
Begründung des Antrags:
Im heutigen Politikbetrieb mangelt es an Erörterung und gründlicher Beratung der öffentlichen Angelegenheiten zu einem Zeitpunkt, in dem Projekte noch formbar sind. Politik und Behörden nutzen viel lieber genehme Expertenmeinungen, die immer häufiger Resultat von Lobbyarbeit sind. Der Beratungsprozess muss deshalb dringend repolitisiert werden. Die Bürgerschaft als demokratischer Souverän muss über die Errichtung eines Netzwerkes von „Zukunftsräten“ maßgeblich und verbindlich bereits an frühen Projektschritten beteiligt werden. Der oben stehende Antrag formuliert deshalb die Forderung nach einer „Beteiligungsrevolution“. Eine glaubwürdige Einbettung von bürgerlicher Beteiligung kann nur positiv auf den heute oft überfordert wirkenden Politikbetrieb zurückwirken. Dabei steht nicht der Appell für eine „neue“ außerparlamentarische Opposition im Zentrum dieses Antrages, und per se auch keine Beschränkung der etablierten Gewalten, sondern die Notwendigkeit, sowohl den politisch Verantwortlichen als auch den staatlichen Bürokratien verbindlich aufzuzeigen, dass ihre sozialen, ökonomischen und kulturellen Projekte nur mit und nicht ohne oder gar gegen die informierten Bürger gelingen können! Verpassen wir die Chance einer „Beteiligungsrevolution“, droht die Leidenschaftslosigkeit der ausführenden Politik, die politischen Emotionen den Populisten zu überlassen. Das heute typische Muster der „Sitzfleisch-Demokratie“, die solange ausharrt, bis die zu einem Machtanspruch passende Entscheidung gefällt werden kann und dabei keinerlei Offenheit für Alternativen oder verbessernde Eingriffe zeigt, frustriert eine informierte Bürgerschaft zutiefst und delegitimiert das politische System. Daneben beleidigen partizipative Scheinprozesse, die lediglich mit dem Ziel initiiert werden, den Widerstand von Bürgern zu befrieden und dabei echte Handlungsspielräume außer Acht lassen, den Intellekt einer Bürgerschaft. Solche Scheindialoge verfestigen Konflikte, da damit das Vertrauen der Bürger in politische oder bürokratische Einheiten völlig untergraben wird. Selbst der Deutsche Städtetag stellt fest:
„Es zeigt sich, dass Legitimität diskursiv geworden ist, häufig nur im Wege der wechselseitigen Überzeugung und des Aushandelns zustande kommt“ und empfiehlt entsprechend den Kommunen „sich systematisch mit der lokalen Beteiligungs- und Planungskultur zu beschäftigen“.
Der absehbaren, reflexartigen Kritik, mit der angestrebten Beteiligungsstruktur solle ein neues „Bürokratiemonster“ geschaffen werden, kann wie folgt entgegengetreten werden:
- Ja, echte Beteiligung wird Zeit, Geld und struktureller Voraussetzungen bedürfen.
- Eine glaubwürdige Bürgerbeteiligung wird aber gewiss nicht mehr Aufwand in Anspruch nehmen als die heute inflationär zunehmende Zahl von Auseinandersetzungen über Planungsvorhaben. Konflikte, die fast zwangsläufig in langwierigen sowie kostspieligen öffentlichen und juristischen Auseinandersetzungen münden und die und im Endeffekt meist in Frustration und Demokratieskepsis enden.
- Die verbreitet wahrgenommene Entpolitisierung des Parteienwettbewerbs auf der einen Seite (In einer Umfrage von TNS Infratest, im Auftrag des "Spiegel" erstellt, vom März 2016, stimmten 57 Prozent der Befragten der Aussage "Die da oben in der Politik machen sowieso, was sie wollen, meine Meinung zählt da nicht" zu.) und die wachsende Politisierung technischer und infrastruktureller Projekte durch betroffene Bürger auf der anderen Seite schaffen eine kritische Situation. Kann das wachsende Ungerechtigkeits-/Machtlosigkeitsempfinden breiter Schichten mit einer Beteiligungsoffensive nicht umgekehrt werden, droht, mobilisiert durch populistische Strömungen gegen „die da oben“, ein Verfall demokratischer Werte.
- Bürokratische Entscheidungen, selbst wenn diese auf neutralem Expertenwissen basieren, können nur durch einen wechselseitigen Lernprozess zwischen Politik, Wissenschaft und Gesellschaft demokratieverträglich gemacht werden.
- Beispiele für funktionierende konsultative Modelle gibt es bereits in Heidelberg sowie in Ansätzen in Bonn und Leipzig; die dort gemachten positiven Erfahrungen können als Ansatz für die Weiterentwicklung eines solchen Prozesses genutzt werden.
Bündnis 90/Die Grünen sind schon aus Überzeugung und Tradition eine Partei, die das hohe Gut der Beteiligungsdemokratie betont und deren Ausbau als zentrales Ziel definiert. Es muss somit unsere unbedingte Absicht sein, ein gesellschaftliches Klima zu fördern, in welchem sich mehr Bürgerinnen und Bürger als bisher nicht länger als Wutbürger, sondern als Mutbürger konstruktiv an der Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft beteiligen. Wir sind damit die politische Kraft, die sich für mutige Entscheidungen hin zu einer „Beteiligungsrevolution“ aussprechen muss – Schritte, die unser Land aus dem Jammertal der Politikverdrossenheit und des Populismus herausführen.
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