Veranstaltung: | 40. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | RW Religions- und Weltanschauungsfreiheit |
Antragsteller*in: | Landesvorstand Hamburg (dort beschlossen am: 20.09.2016) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 21.09.2016, 17:46 |
RW-02 (vormals V-04): Dialogischer Religionsunterricht für alle – der Grüne Weg
Antragstext
Der Dialog zwischen den Religionen und Weltanschauungen ist zu einer zentralen Frage und
Herausforderung in Deutschland geworden. Religionsunterricht muss zu diesem Dialog
beitragen, denn der Religionsunterricht übernimmt die bildungs – und gesellschaftspolitische
Aufgabe, Perspektivwechsel anzuregen und letztendlich Vorurteilsstrukturen abzubauen.
Handlungsleitend bei der Entwicklung und Gestaltung von Religionsunterricht in der heutigen,
durch Multikulturalität und Multireligiosität geprägten Gesellschaft müssen diese drei
Aufgaben sein:
die Vermittlung von Orientierungswissen innerhalb der Religionen und Weltanschauungen
sowie die Auseinandersetzung mit religiös-kulturgeschichtlichen Traditionen;
die Stärkung der interreligiösen Dialogbereitschaft und –fähigkeit sowie der
gegenseitigen Akzeptanz und des gegenseitigen Respekts;
die Vorbereitung und Begleitung individueller, selbstbestimmter Religiosität und/oder
ethisch-moralischen Haltung.
Ein erfolgreicher Religionsunterricht führt dazu, dass Differenz nicht zur Abgrenzung
und/oder Abwertung führt, sondern Überschneidungen und Gemeinsamkeiten gesucht werden sowie
die Gleichwertigkeit der Weltanschauungen akzeptiert und respektiert wird. Weiterhin schafft
er die Grundlagen, dass Religion nicht zu politischen Zwecken missbraucht wird. Ein guter
Religionsunterricht ermöglicht, der Vielfalt der Religionen mit Neugier und nicht mit
Misstrauen zu begegnen.
Ein Modell für einen Religionsunterricht, der diese großen Herausforderungen im besonderen
Maße bewältigen kann, ist das Hamburger Modell mit dem bekenntnisgebundenen dialogischen
Religionsunterricht für alle. Dieser Religionsunterricht ist ein kontextuell-historisch
entstandener, bisher von der evangelischen Kirche verantworteter und den in Hamburg
vertretenen Weltreligionen unterstützter, rechtlich abgesicherter, durch empirische
Untersuchungen fundierter und in Deutschland so einmaliger Religionsunterricht. Er erwuchs
aus der seit den 1970er Jahren zunehmend vielfältiger werdenden Hamburger Bevölkerung – und
damit den immer heterogener werdenden Schulklassen. Mittlerweile gibt es 106
unterschiedliche Religionsgemeinschaften in Hamburg. Gingen die Religionslehrer*innen
zunächst noch unsystematisch mit der Vielfalt um, begann Mitte der 1980er Jahre ein
kontinuierlicher Prozess, den dialogischen Religionsunterricht für alle Schüler*innen
strukturell und curricular zu konzipieren. Selbstverständlich wurde das Recht, gemäß Art. 7,
Abs. 2 GG nicht am Religionsunterricht teilzunehmen, beachtet. 1995 wurde mit der Bildung
des “Gesprächskreises Interreligiöser Religionsunterricht in Hamburg (GIR)“ eine
intermediäre Institution zur Beteiligung von Mitgliedern aus christlichen, jüdischen,
muslimischen, alevitischen, buddhistischen und inzwischen auch hinduistischen Gemeinschaften
zum Zwecke der Beratung und Mitgestaltung des “Religionsunterrichts für alle” geschaffen.
Hier ging und geht es um die Entwicklung von Curricula, der Erstellung von
Unterrichtsmaterialien, der Gestaltung von Lehrerfortbildungen u. v. m. Dreh- und Angelpunkt
dieses Religionsunterrichts für alle ist die Erziehung zur Dialogfähigkeit. Diese ist ein
wichtiger Pfeiler für die Entfaltung einer Identität, die der Herausforderung einer
pluralistischen und multikulturellen Realität gewachsen ist: Sie fördert die Möglichkeit
eines friedlichen Miteinanders, da durch sie Verstehen und auch Perspektivwechsel erst
ermöglicht wird.
Der Hamburger Religionsunterricht für alle ist darüber hinaus ein auch von zahlreichen sich
als religionsfern oder atheistisch verstehenden Schüler*innen gern genutztes Angebot. Viele
religionsferne Jugendliche erleben den Hamburger Religionsunterricht mit seiner dialogisch
ausgerichteten Struktur zu den Grundfragen menschlicher Existenz als eine echte Chance,
sowohl ihre eigene Welt- und Menschensicht zu vertiefen als auch die ihnen oft fremd
erscheinenden, sich dezidiert religiös bekennenden Mitschüler*innen besser zu verstehen.
Seit 2013 arbeiten die Schulbehörde, die evangelische Nordkirche, die durch den
Staatsvertrag 2012 als Religionsgemeinschaften anerkannten muslimischen Verbände Schura,
Ditib, ViKZ und die alevitische Gemeinde, die jüdische Gemeinde Hamburg sowie
Vertreter*innen der buddhistischen und hinduistischen Gemeinschaften daran, den
Religionsunterricht für alle gemeinsam weiterzuentwickeln. Nur die katholische Kirche
beteiligt sich bisher nicht an dem Prozess. Dieses Modell, das gemäß Art. 7, Abs. 3 GG
entwickelt wird, soll nicht mehr ausschließlich von der evangelischen Nordkirche, sondern
von allen beteiligten Religionsgemeinschaften gleichberechtigt verantwortet werden. Das neue
Modell soll unter anderem ermöglichen, dass neben evangelischen Lehrkräften zukünftig auch
muslimische, alevitische und jüdische Religionslehrer*innen das Fach unterrichten können –
das wiederum erfordert eine andere Lehrerbildung. Ganz wesentlich beteiligt an diesem
Prozess ist die Akademie der Weltreligionen (Universität Hamburg), die – ebenso wie der
Religionsunterricht für alle – einmalig in der Bundesrepublik ist. An der Akademie ist ein
Studiengang für Religionslehrer*innen in multireligiösen Klassen implementiert worden. An
der Akademie entwickeln Theolog*innen aus verschiedenen Religionen eine dialogische
Theologie. Am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) ist in der
Abteilung Ausbildung ein entsprechendes Referendariat in Vorbereitung.
Sicher: der Hamburger Weg ist eine spezifische Antwort auf Bedingungen und Möglichkeiten in
einem Stadtstaat wie Hamburg. Aber der Religionsunterricht für alle in Hamburg ist durchaus
verallgemeinerbar, denn das Konzept nimmt aktuelle bildungs- und religionspädagogische
Herausforderungen – Dialogfähigkeit, Perspektivwechsel, Akzeptanz, Respekt, Verständnis
anderer Weltanschauungen - auf und verwandelt sie in Lösungen. Gerade in Großstädten kann
der Religionsunterricht für alle nicht mehr aufgehalten werden. Denn ein nach Konfessionen
bzw. Religionen getrennter Religionsunterricht würde schulisch unorganisierbar und trotz
seiner grundgesetzlichen Absicherung kaum noch im Rahmen des normalen schulischen
Unterrichts erteilt werden. Er würde zudem als nicht in Übereinstimmung mit dem
Allgemeinbildungsauftrag der öffentlichen Schule stehend wahrgenommen und weder bei den
Lehrer*innen noch bei Eltern und Schüler*innen auf Akzeptanz stoßen.
Andere Bundesländer gehen einen anderen Weg, indem sie konfessionsgetrennten
Religionsunterricht eingeführt haben. Diesen Weg kann man gehen, doch er zieht andere
Probleme nach sich: Welche Konfessionen werden durch einen eigenen Religionsunterricht
abgebildet, welche nicht? Wer bildet die Lehrkräfte für diesen Religionsunterricht aus? Für
welche Konfessionen? Wie wird ein Dialog zwischen den unterschiedlichen Religionen in Gang
gesetzt, wie der Perspektivwechsel vollzogen, wie die Kenntnis um und das Verstehen von
anderen Religionen erlangt? Wir meinen, dass ein Religionsunterricht, der lediglich eine
spezifische Religion abbildet, in unserer multireligiösen, multikulturellen Gesellschaft
nicht zukunftsfähig ist – weder in den Großstädten noch in den Kleinstädten und dem
ländlichen Bereich.
Wir fordern daher:
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich daher dafür ein, dass, solange der Art. 7, Abs. 3 GG gilt,
in allen Bundesländern der dialogische Religionsunterricht für alle angestrebt wird.
Begründung
Selbsterklärend
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