Antrag: | Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der offenen Gesellschaft |
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Antragsteller*in: | GRÜNE JUGEND (dort beschlossen am: 21.10.2016) |
Status: | Von der Antragskommission geprüft |
Eingereicht: | 21.10.2016, 14:48 |
RW-01-191: Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der offenen Gesellschaft
Antragstext
Von Zeile 191 bis 194:
- Wir begrüßen das soziale Engagement von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Grundsätzlich sehen wir Wohlfahrtspflege und Daseinsvorsorge als staatliche Aufgaben. Deshalb soll der Staat Grundversorgung an sozialen, medizinischen, bildungs- und Beratungs- und Versorgunsangeboten sicherstellen. Diese Grundversorgung kann durch Angebote von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ergänzt werden. Wir begrüßen und unterstützen Konzepte zur kultursensiblen und pluralistischen Fortentwicklung der Wohlfahrtspflege und treten dafür ein, dass den Menschen möglichst eine Vielfalt an Angeboten zur Verfügung steht
, auch in Gebieten, wo die großen christlichen Wohlfahrtsverbände heute noch Monopolcharakter haben.
Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten religiös vielfältiger geworden. Die Zahl der
Menschen ohne organisierte religiöse Bindung ist gestiegen – darunter viele Atheisten und
Agnostiker-, die Zahl der Christen ist gesunken. Durch Einwanderung und Flucht leben heute
einige Millionen Menschen aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern bei uns, darunter
nicht nur Muslime, sondern auch Aleviten, Jeziden und Säkulare.
Zugleich gewinnt die Frage nach dem Umgang mit Religion und Weltanschauung an Bedeutung. Wie
organisieren wir künftig das Zusammenleben dieser unterschiedlicher Menschen und Gruppen?
Rechtspopulisten greifen ebenso wie islamistische Fanatiker die offene Gesellschaft und ihre
wachsende Pluralität an. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verteidigen Freiheit und Pluralität gegen
Angriffe aus allen Richtungen, führen die überfällige Debatte und legen umfassende
Grundsätze zur Religionspolitik vor.
Religionen und Weltanschauungen bieten Orientierung für ihre Anhänger*innen. Durch sie
werden aber auch Unterschiede sichtbar, die mit dem Ausschluss von allen einhergehen, die
nicht zu der jeweiligen Gruppe gehören. Unterschiede machen die plurale Gesellschaft aus,
sie auszuhalten ist die Kunst, wenn wir es mit der Freiheit ernst meinen. Politisch stellt
sich daher vielmehr die Frage, wie Pluralität organisiert werden muss, damit die
Unterschiede nicht zur Überforderung werden.
Jedes Individuum und jede Gruppe darf ihren Glauben leben und bekunden, die Menschen dürfen
ihr gesamtes Handeln an ihrem Glauben oder an ihrer Weltanschauung ausrichten, solange sie
damit nicht in den Freiheitsbereich anderer eindringen. Jeder und jede hat das Recht darauf,
die eigene Religion oder Weltanschauung frei zu wählen oder sie zu wechseln oder aber gar
keine Religion zu haben. Alle müssen sich darauf verlassen können, dass der Staat diese
Freiheiten gewährleistet und wissen, dass der Staat es nicht dulden wird, wenn sie anderen
diese Freiheit beschneiden.
Es geht angesichts gesellschaftlicher Veränderungen um die Verständigung auf den gemeinsamen
Grundkonsens bei allen Unterschieden. Menschenwürde, Grund- und Menschenrechte, Rechtsstaat,
Gewaltenteilung und Demokratie stehen für uns nicht zur Disposition. Hier werden wir keine
Abstriche machen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bejahen Pluralität. Der Schutz vor Diskriminierung und die
Gewährleistung der Grundrechte aller ist das Fundament von Freiheit und der produktiven
Entfaltung gesellschaftlicher Vielfalt. Wir streiten als Christen, Juden, Muslime, Aleviten,
Atheisten, Buddhisten und neue Heiden, Hindus, Sikhs, Baha’i, Konfessionsfreie und
Agnostiker für die Rechte der anderen. Denn die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist
immer die Freiheit der anders Denkenden und Glaubenden. Der säkulare und weltanschaulich
neutrale Staat und eine konsequente Freiheitspolitik sind der sichere Rahmen für alle, die
einer Religion oder Weltanschauung angehören und zugleich für alle, die keiner Religion
angehören wollen.
Fünf Grundsätze grüner Religions- und Weltanschauungspolitik
1. Bündnisgrüne Politik ist Menschenrechtspolitik. Für bündnisgrüne Religionspolitik ist
deshalb die Orientierung am Menschenrecht der Glaubens-, Gewissens- und
Weltanschauungsfreiheit maßgeblich. Sie muss in all ihren drei Dimensionen gesichert werden.
Grundlegend ist zunächst die individuelle Religionsfreiheit. Sie ist Freiheit zum Glauben,
also das Recht, einen Glauben oder eine Weltanschauung zu haben, zu pflegen und auszuüben,
und sein ganzes Leben am eigenen Glauben auszurichten. Gleichermaßen ist sie negative
Glaubensfreiheit, also das Recht, keinen Glauben oder keine Weltanschauung zu haben, zu
pflegen und auszuüben und von den Glaubensvorstellungen anderer, auch der Mehrheit, im
eigenen Freiheitsbereich nicht beschränkt zu werden. Insbesondere diese negative Dimension
der Glaubensfreiheit ist in der Religionspolitik bislang häufig vernachlässigt oder gar
ignoriert worden. Zur kollektiven Dimension der Religions- und Weltanschauungsfreiheit
schließlich gehört, dass der Glauben oder die Weltanschauung in Gemeinschaft praktiziert
werden dürfen, Religion und Weltanschauung auch im öffentlichen Raum stattfinden und
Religions- wie Weltanschauungsgemeinschaften als Akteure im öffentlichen Raum auftreten
dürfen. Das Grundgesetz verleiht solchen Gemeinschaften auch korporative Rechte, sie sind
also auch selbst Rechtsträger, insofern sie dadurch ihren Mitgliedern die Ausübung ihres
Glaubens praktisch ermöglichen.
2. Bündnisgrüne Politik ist Freiheitspolitik. Eine lebendige Demokratie und ein
funktionierender Rechtsstaat sind Voraussetzungen politischer Freiheit. Im bündnisgrünen
Grundsatzprogramm von 2002 heißt es daher: „Demokratische Einmischung ist nicht nur erlaubt
– sie wird von uns gewünscht und gefördert. Eine funktionierende Demokratie benötigt eine
starke Zivilgesellschaft.“ Eine solche aber ist mehr als eine Ansammlung von Individuen.
Vereinigungen, Gemeinschaften und Initiativen sind für die Demokratie unerlässlich, weil sie
die Menschen zu gemeinsamem Handeln befähigen. In diesem Sinne gehen wir auch mit den
Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften um. Sie können eine wichtige Säule für den
gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie konstitutiv für eine lebendige Demokratie sein.
Voraussetzung ist, dass sie die Grundprinzipien der Verfassung achten, sich dem öffentlichen
Diskurs stellen, eigene Ansichten im gesellschaftlichen Diskurs nicht verabsolutieren und
insofern nicht fundamentalistisch agieren.
3. Ziel bündnisgrüner Religionspolitik ist es, die Glaubensfreiheit in allen drei
Dimensionen zu sichern, Gleichbehandlung und Pluralität zu verwirklichen und Diskriminierung
zu verhindern. Wir zielen nicht darauf ab, Religionsgemeinschaften in den privaten Raum zu
verbannen. Allerdings wollen wir legitime Ansprüche von Menschen anderer oder ohne
Religionszugehörigkeit auch gegenüber verfassten Religionsgemeinschaften sowie in Fragen der
öffentlichen Repräsentation schützen und stärken. Dafür brauchen wir einen selbstbewussten,
weltanschaulich neutralen und aktiven Staat im Gegenüber zu den Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften.
4. Der säkulare Staat muss den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gegenüber
neutral sein und organisatorisch prinzipiell von ihnen getrennt sein. Er darf sich nicht mit
einer Religion oder Weltanschauung identifizieren und auch nicht eine von diesen bevorzugt
behandeln. Die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften haben ein verfassungsrechtlich
garantiertes Selbstordnungs- und -verwaltungsrecht. Das gibt ihnen das Recht, ihre inneren
Angelegenheiten selbst zu organisieren, ohne Einmischung des Staates. Bündnisgrüne
Religionspolitik erkennt dieses Recht als Konsequenz aus der grundsätzlichen Trennung von
Religion und Staat an. Allerdings gilt dieses Recht nicht unbeschränkt, sondern muss mit
anderen Grundrechten bzw. den Grundrechtspositionen Anderer ausgeglichen werden (praktische
Konkordanz). Dies kann zu neuen Entwicklungen bei der Verwirklichung von Grundrechten
führen, wie wir es beispielsweise für das kirchliche Arbeitsrecht fordern.
5. Neutralität und Trennung von Religion, Weltanschauung und Staat bedeuten kein
Kooperationsverbot. Bündnisgrüne Religionspolitik möchte das in Deutschland historisch
gewachsene kooperative Modell weiterentwickeln und hat Kriterien und Voraussetzungen für
eine Kooperation des Staates mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in einer
pluralen Gesellschaft erarbeitet. Zu solchen Voraussetzungen gehört beispielsweise auch die
Verpflichtung auf wissenschaftliche Methoden, wenn an staatlichen Hochschulen theologische
Lehrstühle in Kooperation mit einer Religionsgemeinschaft eingerichtet werden. Angesichts
der gewachsenen Vielfalt darf der Staat als Modell für Kooperationspartner nicht nur die
beiden großen christlichen Kirchen im Blick haben. Die Vorschläge zur Weiterentwicklung des
kooperativen Modells beinhalten an einigen Stellen – wie beispielsweise beim Umgang mit
Staatsleistungen oder der Abschaffung der Kirchenaustrittsgebühr – auch eine stärkere
Entflechtung von Religionsgemeinschaften und Staat.
Pluralität gewährleisten
Voraussetzung für eine Kooperation zwischen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und
dem Staat ist die Anerkennung der fundamentalen Verfassungsgüter, der Grundrechte Dritter
sowie der Grundprinzipien des freiheitlichen Religionsverfassungsrechts.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwarten von allen in der Gesellschaft und damit gerade auch von allen
Gemeinschaften, die in Kooperation mit dem Staat sind oder treten wollen, dass sie die
positive und negative Religions- und Weltanschauungsfreiheit umfassend anerkennen, dass sie
die Gleichheit von Frauen und Männern, die Rechte von Minderheiten und die Rechte von
Menschen, die ihr Selbstbestimmungsrecht nicht oder nur bedingt wahrnehmen können, ebenso
achten wie demokratische Willensbildungsprozesse. Wir erwarten im gesellschaftlichen
Miteinander, dass sie alle Formen von Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit,
ebenso wie Homophobie nirgends dulden. Ebenso erwarten wir von allen die Wahrung der
Meinungsfreiheit und das Zulassen von Kritik an religiösen Lehren, Praktiken und
Traditionen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten für Reformen ein, die der gewachsenen Vielfalt, der
Individualisierung und Pluralisierung der religiösen und weltanschaulichen Landschaft in
Deutschland gerecht werden. Der Anspruch auf Gleichberechtigung ist nicht nur legitim, er
ist verfassungsrechtlich geboten und gesellschaftspolitisch erwünscht. Im kooperativen
Verhältnis zwischen Staat und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften müssen dafür aber
auch auf der Seite der Gemeinschaften die Voraussetzungen dafür erfüllen. Dies sind
Bekenntnisförmigkeit, mitgliedschaftliche Organisation, Erfüllung aller Aufgaben der Pflege
des religiösen Bekenntnisses.
- Islamische Gemeinschaften können und sollen als Religionsgemeinschaften anerkannt
werden, wenn sie die rechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllen. Wenn sie die Gewähr
der Dauer bieten, können sie auch den Körperschaftsstatus erlangen und somit gegenüber
den Kirchen gleichberechtigt werden. Die Muslimas und Muslime und ihre Organisationen
müssen dabei freilich selbst entscheiden, ob und wie sie in der Vielfalt muslimischen
Lebens die Voraussetzungen dafür schaffen wollen, um ein institutionalisiertes
Kooperationsverhältnis mit dem Staat zu erreichen. Die vier großen muslimischen
Verbände (Ditib, Islamrat, Zentralrat der Muslime, V.I.K.Z.) erfüllen aber aus grüner
Sicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die vom Grundgesetz geforderten
Voraussetzungen an eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Religionsverfassungsrechts.
Sie sind religiöse Vereine. Ihre Identität und Abgrenzung untereinander ist nicht
durch Unterschiede im religiösen Bekenntnis begründet, sondern politischen und
sprachlichen Identitäten aus den Herkunftsländern und der Migrationsgeschichte
geschuldet. Die DITIB ist dabei zudem eine Tochterorganisation des Präsidiums für
Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) in Ankara. Die strukturelle
Abhängigkeit von einem Staat und dessen jeweiliger Regierungspolitik entspricht nicht
der grundgesetzlich geforderten Trennung von Religion und Staat.
- Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zum Kopftuch die positive
Religionsfreiheit gestärkt. Der Staat hat demnach nicht zu beurteilen, welche
Bekleidungsvorschriften jemand aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen für sich
als verpflichtend ansieht oder nicht. Pauschale Verbote kann es nach diesem Urteil
nicht mehr geben. Entsprechende Regelungen müssen zudem diskriminierungsfrei erfolgen,
also für alle Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen gelten. Gerungen wird
derzeit allerdings nicht mehr nur über das Kopftuch, sondern über ein Burkaverbot und
ein Burkiniverbot.
Erhoben wurden diese Forderungen von Seiten der Union vor allem als
Wahlkampfauseinandersetzung oder zuletzt als Teil der Antwort der CDU Innenminister
auf terroristische Anschläge. Doch Kleidungsvorschriften für Frauen sind keine
Antworten auf das berechtigte Schutzbedürfnis der Menschen.
Wir Grünen sagen klar: Niemand darf Frauen vorschreiben, was sie aus religiösen
Gründen anzuziehen haben, noch sie zwingen, sich auszuziehen. Wir haben als Grüne in
der Vergangenheit gegenüber den Kirchen zu ihren Vorstellungen von Geschlechterrollen
oder der kirchlichen Sexuallehre kein Blatt vor den Mund genommen. Genauso werden wir
auch gegen frauenfeindliche Haltungen im Islam streiten. Burka und Niqab sind Ausdruck
einer patriarchalischen, frauenfeindlichen Gesellschaftsordnung, die wir ablehnen.
Auch die große Mehrheit der Muslime sieht die derartig weitgehende Verhüllung nicht
als religiöses Gebot. Aber nicht alles, was man falsch findet, kann man verbieten. Das
Grundgesetz gibt hier hohe Hürden vor. Partielle Verbote der Vollverschleierung müssen
gut begründete Ziele haben. Für die Identitätsfeststellung einer Person oder die
Sicherheit im Straßenverkehr, gibt es beispielsweise heute bereits Regelungen. Ob es
weitere Regelungsbedarfe gibt, muss gründlich geprüft werden.
In der aktuellen Debatte wird stattdessen auf dem Rücken von Frauen eine Symbolpolitik
betrieben, die im Ergebnis antimuslimische Ressentiments befördert und mit der
Rechtspopulist*innen sogar zum Ziel haben, Muslim*innen zu diskriminieren. Die
Diskussion ist eine Scheindebatte die von den tatsächlich sicherheitspolitisch
entscheidenden Maßnahmen, wie einer starken, modernen und adäquat ausgestatteten
Polizei sowie von Prävention ablenkt.
Wer wirklich etwas für die Selbstbestimmung von Frauen tun will, der sollte
beispielsweise Beratungsstellen finanziell fördern, die Frauen über ihre Rechte
aufklären und ihnen Schutz gewähren, wenn sie in ihrer Freiheit und Selbstbestimmung
bedrängt oder bedroht werden.
- Niemand darf wegen seiner Religion oder Weltanschauung diskriminiert werden. Das ist
nicht nur in der Verfassung verankert, sondern z.B. für den Bereich Beschäftigung und
Beruf und im Zivilrechtsverkehr auch im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
näher geregelt. In der Praxis kommt es freilich immer noch oft zu Benachteiligungen.
Wir wollen daher das AGG effektiver gestalten und zur besseren Rechtsdurchsetzung ein
Verbandsklagerecht vorsehen.
- Wir setzen uns dafür ein, die öffentlichen Gedenk- und Trauerkultur zu überprüfen, die
bisher oft an die beiden großen christlichen Kirchen delegiert wird. Wir wollen eine
öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie die Belange anderer religiöser und
weltanschaulicher Gemeinschaften und die Belange religions- oder weltanschauungs-
gemeinschaftsfreier Menschen berücksichtigt werden können.
- Wir wollen Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten. In Krankenhäusern,
Heimen, bei der Bundeswehr oder in der Justizvollzugsanstalt ist der Staat in der
Pflicht, Zugänge für qualifiziertes und geeignetes religiöses und weltanschauliches
Personal zu gewährleisten. Diejenigen, die diesen Seelsorgedienst versehen, sind
verpflichtet, die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 Grundgesetz,
die Freiheitsgrundrechte und die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu wahren.
Hierauf muss der Staat auch wegen seiner staatlichen Verantwortung in Anstalten
besonders achten.
Wir begrüßen das soziale Engagement von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Grundsätzlich sehen wir Wohlfahrtspflege und Daseinsvorsorge als staatliche Aufgaben. Deshalb soll der Staat Grundversorgung an sozialen, medizinischen, bildungs- und Beratungs- und Versorgunsangeboten sicherstellen. Diese Grundversorgung kann durch Angebote von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ergänzt werden. Wir begrüßen und unterstützen Konzepte zur kultursensiblen und pluralistischen
Fortentwicklung der Wohlfahrtspflege und treten dafür ein, dass den Menschen möglichst
eine Vielfalt an Angeboten zur Verfügung steht, auch in Gebieten, wo die großen
christlichen Wohlfahrtsverbände heute noch Monopolcharakter haben.
- Es muss grundsätzlich gewährleistet sein, Bestattungen nach den jeweiligen religiösen
und weltanschaulichen Vorschriften vornehmen zu können. Wir unterstützen die
vielerorts bereits praktizierte interkulturelle Öffnung von Friedhöfen auch in
kirchlicher Trägerschaft und setzen uns für deren Fortentwicklung ein. Eingriffe in
das Recht, die Form der Bestattung und der letzten Ruhe selbst zu wählen, können nur
durch hygienisch begründete Vorschriften und die Rechte Dritter gerechtfertigt werden.
Wir halten den Friedhofszwang bei Urnenbeisetzungen nicht für gerechtfertigt.
- Wir setzen uns dafür ein, dass in den Feiertagsregelungen der Bundesländer die
Mitglieder einer anerkannten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft eine
angemessene Anzahl arbeitsfreier Tage eingeräumt bekommen, um die Feiertage ihrer
Gemeinschaft begehen zu können. Eine analoge Regelung soll es auch für Schüler*innen
geben. An den gesetzlichen Feiertagen wollen wir festhalten: Die Gesellschaft braucht
Sonn- und Feiertage, damit sich die Menschen jenseits von Büro- und
Ladenöffnungszeiten ausruhen und das soziale Miteinander pflegen können.
- Für einen angemessenen bekenntnisorientierten Religionsunterricht auf der Grundlage
des Verfassungsrechts des jeweiligen Bundeslandes braucht es entsprechende akademische
Ausbildung des Lehrpersonals. Unbedingt zu empfehlen ist daher die Etablierung
theologischer Studien zu den jeweiligen Religionen und auch für
Weltanschauungsgemeinschaften, die wie der Humanistische Verband
bekenntnisorientierten Unterricht an Schulen anbieten. Wo anerkannte
Religionsgemeinschaften als Partner fehlen, kann der Landesgesetzgeber nach dem
Vorbild des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes mit einem Beirat, der mit Vertretern
islamischer Organisationen und Sachverständigen besetzt ist, vorübergehend die Rolle
der Religionsgemeinschaften substituieren. Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist wesentliche
Voraussetzung, dass ein solches Gremium die tatsächliche Breite des muslimischen
Spektrums in Deutschland angemessen widerspiegelt.
- Bündnis 90/Die Grünen treten für eine Besetzung der Rundfunk- und Fernsehräte ein, in
der sich die heutige gesellschaftliche, religiöse und weltanschauliche Pluralität
Deutschlands widerspiegelt.
- Wir plädieren für schärfere Differenzierung und Lockerung bzgl. der sogenannten
„Tanzverbote“– vor allem im Hinblick auf öffentliche bzw. nicht-öffentliche
Veranstaltungen, Aufzüge und Kundgebungen. Maßstab für die individuelle Freiheit
einschränkende Regeln an religiös begründeten Stillen Tagen kann nur die
Rücksichtnahme auf die religiöse Praxis anderer sein. Zusätzlich halten wir es für
angebracht, dass die Kommunen größeren Spielraum bei der Ausgestaltung der Stillen
Tage erhalten, um den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Bevölkerungsgruppen
in den jeweiligen Regionen entgegen kommen zu können.
- Unser demokratischer Rechtsstaat hält alle notwendigen Mittel bereit, um sich gegen
Individual- und Kollektivbeleidigung und auch gegen Volksverhetzung zu wehren. Deshalb
wollen wir §166 StGB streichen. Dadurch entsteht keine Strafbarkeitslücke, da die
Vorschriften über Beleidigung, Verleumdung und Volksverhetzung völlig ausreichend
sind, um eine Gefährdung öffentlichen Friedens durch die Beleidigung von religiösen
Überzeugungen wirksam zu ahnden
- Gesetz über Beschneidungen evaluieren: Wir schlagen vor, das Gesetz vom 12.12.2012 zu
evaluieren. Dazu soll dem Deutschen Bundestag in der nächsten Legislaturperiode ein
Evaluationsbericht der Regierung (BMG und BMJ) vorgelegt werden. Ziel der Evaluation
ist es zu überprüfen, ob das Gesetz umfassend angewendet wird, ob es hinreichend
sicherstellt, dass der medizinisch nicht indizierte Eingriff so schonend und
altersgemäß wie möglich ausgeführt wird, und ob sich in der Praxis ggf.
Regelungslücken gezeigt haben. Aus dem Bericht sind Schlussfolgerungen zu ziehen unter
Einbeziehung der Betroffenen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen sowie
Vertreter*innen der jüdischen Religionsgemeinschaften und muslimischen Vereine und
Verbände.
Kirchliches Arbeitsrecht reformieren
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehen dringenden Reformbedarf hinsichtlich des kirchlichen
Arbeitsrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Individuelle Grundrechte wie die
individuelle Religionsfreiheit, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht
auf Privat- und Familienleben sowie das Recht auf Arbeits- bzw. Berufsfreiheit, d.h.
diskriminierungsfreier Zugang, Durchführung, Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen
können im Konflikt stehen mit dem Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht der Kirchen als
Träger von Betrieben in kirchlicher Trägerschaft.
Das besondere Arbeitsrecht für Beschäftigte in Kirchen und in Betrieben kirchlicher Träger
enthält deutliche Beschränkungen der Rechte von Arbeitnehmer*innen im Verhältnis zu den
Rechtspositionen von Beschäftigten in anderen Unternehmen und in karitativen, sozialen und
erzieherischen Einrichtungen nichtkirchlicher Träger. Außerdienstliches und privates
Verhalten eines Beschäftigten einer Kirche, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft,
dessen Tätigkeit nicht den Bereich der Verkündigung umfasst, darf keine arbeitsrechtlichen
Auswirkungen haben. Die persönlichen Loyalitätspflichten von Mitarbeiter*innen außerhalb des
Bereiches der religiösen Verkündigung, also in der Wohlfahrtspflege oder im Bildungsbereich,
halten wir für unverhältnismäßig.
Durch Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (§ 9 Abs. 1 AGG) und der
arbeitsrechtlichen EU-Antidiskriminierungsrichtlinie (Art. 4 Abs. 2) wollen wir die
Ausnahmen für die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften enger fassen und damit den
individuellen Rechten deutlich mehr Geltung verschaffen. Der Staat muss seiner Schutzpflicht
gerecht werden und einen Rechtsrahmen schaffen, innerhalb dessen Gerichte eine gerechte
Abwägung vornehmen können zwischen den Arbeitnehmer- und den besonderen Arbeitgeberrechten.
Koalitionsfreiheit und Streikrecht wollen wir als soziale Grundrechte für Arbeitnehmer auch
in Betrieben in kirchlicher Trägerschaft gewährleisten. Sie sind unserer Überzeugung nach
mit einem Tendenzschutz und dem kirchlichen Recht auf Selbstordnung und Selbstverwaltung
vereinbar. Für den Bereich des kollektiven Arbeitsrechts fordern wir daher die Überprüfung
des Regelungsgehalts von § 112 Personalvertretungsgesetz und §118 Abs. 2
Betriebsverfassungsgesetz. Ziel ist, den generellen Ausschluss von Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften und von deren karitativen und sozialen Einrichtung aus dem
Wirkungsbereich dieser beiden Gesetze auszuschließen, sodass eine Gleichbehandlung mit
anderen karitativen und sozialen Betrieben i.S.d. § 118 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz
erfolgt. Die berechtigten Belange kirchlicher und weltanschaulicher Einrichtungen werden
dabei insofern gewährleistet, als sie dem spezifischen kirchlichen Tendenzschutz
unterliegen. Bei einer Novelle sollen nach Möglichkeit jetzige spezifische Möglichkeiten der
Interessenvertretung der Mitarbeiter*innen kleinerer kirchlicher Arbeitgeber gewahrt
bleiben, wenn dies von den Mitarbeiter*innen gewünscht wird und die Rechte der
Mitarbeiter*innen nicht eingeschränkter sind als bei einer Anwendung von PersVG oder BetrVG.
Weiterhin soll es – bei Berücksichtigung der vorstehenden Überlegungen - die Möglichkeit
geben, überbetriebliche Interessenvertretungen im Rahmen einer Neuregelung zu wahren bzw. zu
etablieren, Optionen der kirchlichen Mitarbeitervertretung zu erhalten, die über die
bisherigen Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes sogar hinausgehen.
Kirchenfinanzen transparenter machen
Die Bürger*innen erwarten heutzutage zu Recht mehr Transparenz von staatlichem Handeln. Das
gilt auch für Körperschaften öffentlichen Rechts. Wir wollen deshalb höhere Anforderungen an
den Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften stellen. Unser Ziel ist, dass
Körperschaften des öffentlichen Rechts sowohl ihre Vermögen als auch die Einnahmen und
Ausgaben offen legen. Wir begrüßen, dass sowohl die evangelische als jüngst auch die
katholische Kirche Schritte in Richtung Transparenz unternommen haben und wollen prüfen, ob
es einfachgesetzliche Möglichkeiten gibt, dieses Ziel zu erreichen. Sollte dies nicht der
Fall sein, dann wollen wir die entsprechenden Voraussetzungen durch eine Änderung des
Grundgesetzes schaffen: eine Kompetenznorm im Grundgesetz würde eine einfachgesetzliche
Regelung ermöglichen.
Kirchensteuer reformieren
Das Bundesverfassungsgericht hat das Kirchen- bzw. Gemeindesteuersystem als
verfassungskonform bestätigt. Politisch gibt es aus Sicht von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gute
Gründe für wie gegen die Kirchensteuer. Unbeschadet dieser grundsätzlichen Frage ist in
jedem Fall der aktuelle Kirchensteuereinzug reformbedürftig, um Gleichbehandlung und
Datenschutz zu gewährleisten. Bündnis 90/Die Grünen schlagen deshalb folgende Reformen im
bestehenden System vor:
- Reform der Sonderausgabenabzugsmöglichkeit der Kirchensteuer: Wir wollen die
Bevorzugung der Kirchenmitglieder beenden, künftig sollen nicht kirchen-
/gemeindesteuerpflichtige Steuerzahler*innen einen zusätzlichen, zur Kirchensteuer
analogen Spendenfreibetrag für religiöse, mildtätige oder gemeinnützige Zwecke
erhalten, sofern sie diese Spenden auch tatsächlich leisten.
- Datenschutz beim Zwang zur Offenbarung der Kirchenzugehörigkeit gegenüber Dritten: Wir
wollen, dass weder Arbeitgeber noch Kreditinstitute persönliche Daten über die
Konfessionszugehörigkeit bzw. –losigkeit aus Lohnsteuerkarte oder Kapitalertragssteuer
erfahren dürfen. Wir halten es verfahrenstechnisch für möglich, Wege zu schaffen für
diejenigen, die den konkreten Status für Dritte nicht sichtbar machen wollen (ohne
dass sich dadurch Zahlungspflichten verändern). Denn für die Kirchensteuerzahlung ist
der Quellenabzug, also die Abführung über Arbeitgeber oder Kreditinstitute, nicht
zwingend.
- Reform der Kirchensteuerzahlung im Fall von geringfügig Beschäftigten: Der Arbeitgeber
muss eine einheitliche Pauschsteuer für Soli-Zuschlag und Kirchensteuer für das aus
geringfügigen Beschäftigungen erzielte Einkommen in Höhe von zwei Prozent des
Arbeitsentgelts abführen. Dies kann zur Besteuerung von Nichtkirchenmitgliedern
führen. Darum wollen wir, dass in diesen Fällen auf die Erhebung von Kirchensteuern
verzichtet wird, wenn sich das ohne bürokratischen Mehraufwand regeln lässt.
- Reform der Besteuerung von glaubensverschiedenen Ehen, besonders des sog.
Lebensführungsaufwands in Form des besonderen Kirchgeldes: Wir schlagen vor, die
Kirchensteuer von einkommenslosen Ehegatten am ehelichen Unterhaltsanspruch statt am
Lebensführungsaufwand zu orientieren. Damit wollen wir dem Prinzip Rechnung tragen,
dass nur von Kirchensteuern betroffen ist, wer selbst Mitglied einer Kirche ist. Eine
Individualbesteuerung von Ehepaaren würde diese Reform allerdings überflüssig machen.
- Rechtssicherer und kostenloser Kirchenaustritt: Wir wollen rechtssichere Wege für den
Kirchenaustritt schaffen. Es kann nicht sein, dass das ausgetretene Mitglied bis zum
Ende des Lebens beweispflichtig für den Austritt bleibt. Außerdem wollen wir die
Gebühr beim Kirchenaustritt abschaffen, die der Staat bislang erhebt, um die Kosten zu
decken, die durch die Entgegennahme der Austrittserklärung und die Dokumentation
entstehen. Der Staat übernimmt hier eine Aufgabe für die Kirchen. Hat er dafür
Mehrausgaben, so muss er diese pauschal mit den Kirchen abrechnen.
Staatsleistungen ablösen
Die Kirchen erhalten vom Staat bis heute Leistungen als Entschädigung für Enteignungen in
der Zeit der Säkularisierung. Der grundgesetzliche Auftrag zur Ablösung dieser
Staatsleistungen ist bislang nicht umgesetzt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern, dass durch die
Bundesregierung unverzüglich eine Expertenkommission eingesetzt wird, die eine
Gesamtübersicht über die Staatsleistungen im Sinne des Artikels 138, Absatz 1 der Weimarer
Reichsverfassung vom 11. August 1919 anfertigt und Vorschläge für eine entsprechende
Ablösungs-Gesetzgebung unterbreitet. Dabei geht es um die sogenannten historischen
Staatsleistungen, nicht um neu begründete, wie die mit dem Zentralrat der Juden.Außerdem
fordern wir den Bund und die Länder auf, in konkrete Gespräche einzutreten. Angesichts der
unterschiedlichen Situation und der unterschiedlichen Höhe der gezahlten Leistungen in den
Ländern wird es jeweils passgenaue Lösungen geben müssen.
Parallel dazu sollte ein Dialog mit der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der
Evangelischen Kirche in Deutschland begonnen werden, um möglichst zügig die erstrebten
Ablösungen der Staatsleistungen umsetzen zu können. Das „Ablösungsgrundsätzegesetz“ kann im
Rahmen einer Vereinbarung mit oder ohne die Zustimmung der betroffenen Kirchen von Bundestag
und Bundesrat verabschiedet werden, da es nur die Modalitäten einer späteren Ablösung
festlegt.
Zusätzlich und unabhängig von der großen Lösung wollen wir auf Vertrag beruhende Ablösungen
vorantreiben und die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen. In einigen
Bundesländern findet de facto bereits eine Teilablösung statt, bei der durch Vereinbarungen
zwischen Land und Kirchen pauschal staatliche Verbindlichkeiten abgelöst werden. Um der
Öffentlichkeit eine qualifizierte Darstellung der Staatsleistungen zu geben, fordern wir
diejenigen Länder, bei denen das nicht transparent genug ist auf, die jährlichen
Haushaltspläne so zu ändern, dass die Staatsleistungen differenziert dargestellt werden.
Von Zeile 191 bis 194:
- Wir begrüßen das soziale Engagement von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Grundsätzlich sehen wir Wohlfahrtspflege und Daseinsvorsorge als staatliche Aufgaben. Deshalb soll der Staat Grundversorgung an sozialen, medizinischen, bildungs- und Beratungs- und Versorgunsangeboten sicherstellen. Diese Grundversorgung kann durch Angebote von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ergänzt werden. Wir begrüßen und unterstützen Konzepte zur kultursensiblen und pluralistischen Fortentwicklung der Wohlfahrtspflege und treten dafür ein, dass den Menschen möglichst eine Vielfalt an Angeboten zur Verfügung steht
, auch in Gebieten, wo die großen christlichen Wohlfahrtsverbände heute noch Monopolcharakter haben.
Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten religiös vielfältiger geworden. Die Zahl der
Menschen ohne organisierte religiöse Bindung ist gestiegen – darunter viele Atheisten und
Agnostiker-, die Zahl der Christen ist gesunken. Durch Einwanderung und Flucht leben heute
einige Millionen Menschen aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern bei uns, darunter
nicht nur Muslime, sondern auch Aleviten, Jeziden und Säkulare.
Zugleich gewinnt die Frage nach dem Umgang mit Religion und Weltanschauung an Bedeutung. Wie
organisieren wir künftig das Zusammenleben dieser unterschiedlicher Menschen und Gruppen?
Rechtspopulisten greifen ebenso wie islamistische Fanatiker die offene Gesellschaft und ihre
wachsende Pluralität an. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verteidigen Freiheit und Pluralität gegen
Angriffe aus allen Richtungen, führen die überfällige Debatte und legen umfassende
Grundsätze zur Religionspolitik vor.
Religionen und Weltanschauungen bieten Orientierung für ihre Anhänger*innen. Durch sie
werden aber auch Unterschiede sichtbar, die mit dem Ausschluss von allen einhergehen, die
nicht zu der jeweiligen Gruppe gehören. Unterschiede machen die plurale Gesellschaft aus,
sie auszuhalten ist die Kunst, wenn wir es mit der Freiheit ernst meinen. Politisch stellt
sich daher vielmehr die Frage, wie Pluralität organisiert werden muss, damit die
Unterschiede nicht zur Überforderung werden.
Jedes Individuum und jede Gruppe darf ihren Glauben leben und bekunden, die Menschen dürfen
ihr gesamtes Handeln an ihrem Glauben oder an ihrer Weltanschauung ausrichten, solange sie
damit nicht in den Freiheitsbereich anderer eindringen. Jeder und jede hat das Recht darauf,
die eigene Religion oder Weltanschauung frei zu wählen oder sie zu wechseln oder aber gar
keine Religion zu haben. Alle müssen sich darauf verlassen können, dass der Staat diese
Freiheiten gewährleistet und wissen, dass der Staat es nicht dulden wird, wenn sie anderen
diese Freiheit beschneiden.
Es geht angesichts gesellschaftlicher Veränderungen um die Verständigung auf den gemeinsamen
Grundkonsens bei allen Unterschieden. Menschenwürde, Grund- und Menschenrechte, Rechtsstaat,
Gewaltenteilung und Demokratie stehen für uns nicht zur Disposition. Hier werden wir keine
Abstriche machen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bejahen Pluralität. Der Schutz vor Diskriminierung und die
Gewährleistung der Grundrechte aller ist das Fundament von Freiheit und der produktiven
Entfaltung gesellschaftlicher Vielfalt. Wir streiten als Christen, Juden, Muslime, Aleviten,
Atheisten, Buddhisten und neue Heiden, Hindus, Sikhs, Baha’i, Konfessionsfreie und
Agnostiker für die Rechte der anderen. Denn die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist
immer die Freiheit der anders Denkenden und Glaubenden. Der säkulare und weltanschaulich
neutrale Staat und eine konsequente Freiheitspolitik sind der sichere Rahmen für alle, die
einer Religion oder Weltanschauung angehören und zugleich für alle, die keiner Religion
angehören wollen.
Fünf Grundsätze grüner Religions- und Weltanschauungspolitik
1. Bündnisgrüne Politik ist Menschenrechtspolitik. Für bündnisgrüne Religionspolitik ist
deshalb die Orientierung am Menschenrecht der Glaubens-, Gewissens- und
Weltanschauungsfreiheit maßgeblich. Sie muss in all ihren drei Dimensionen gesichert werden.
Grundlegend ist zunächst die individuelle Religionsfreiheit. Sie ist Freiheit zum Glauben,
also das Recht, einen Glauben oder eine Weltanschauung zu haben, zu pflegen und auszuüben,
und sein ganzes Leben am eigenen Glauben auszurichten. Gleichermaßen ist sie negative
Glaubensfreiheit, also das Recht, keinen Glauben oder keine Weltanschauung zu haben, zu
pflegen und auszuüben und von den Glaubensvorstellungen anderer, auch der Mehrheit, im
eigenen Freiheitsbereich nicht beschränkt zu werden. Insbesondere diese negative Dimension
der Glaubensfreiheit ist in der Religionspolitik bislang häufig vernachlässigt oder gar
ignoriert worden. Zur kollektiven Dimension der Religions- und Weltanschauungsfreiheit
schließlich gehört, dass der Glauben oder die Weltanschauung in Gemeinschaft praktiziert
werden dürfen, Religion und Weltanschauung auch im öffentlichen Raum stattfinden und
Religions- wie Weltanschauungsgemeinschaften als Akteure im öffentlichen Raum auftreten
dürfen. Das Grundgesetz verleiht solchen Gemeinschaften auch korporative Rechte, sie sind
also auch selbst Rechtsträger, insofern sie dadurch ihren Mitgliedern die Ausübung ihres
Glaubens praktisch ermöglichen.
2. Bündnisgrüne Politik ist Freiheitspolitik. Eine lebendige Demokratie und ein
funktionierender Rechtsstaat sind Voraussetzungen politischer Freiheit. Im bündnisgrünen
Grundsatzprogramm von 2002 heißt es daher: „Demokratische Einmischung ist nicht nur erlaubt
– sie wird von uns gewünscht und gefördert. Eine funktionierende Demokratie benötigt eine
starke Zivilgesellschaft.“ Eine solche aber ist mehr als eine Ansammlung von Individuen.
Vereinigungen, Gemeinschaften und Initiativen sind für die Demokratie unerlässlich, weil sie
die Menschen zu gemeinsamem Handeln befähigen. In diesem Sinne gehen wir auch mit den
Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften um. Sie können eine wichtige Säule für den
gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie konstitutiv für eine lebendige Demokratie sein.
Voraussetzung ist, dass sie die Grundprinzipien der Verfassung achten, sich dem öffentlichen
Diskurs stellen, eigene Ansichten im gesellschaftlichen Diskurs nicht verabsolutieren und
insofern nicht fundamentalistisch agieren.
3. Ziel bündnisgrüner Religionspolitik ist es, die Glaubensfreiheit in allen drei
Dimensionen zu sichern, Gleichbehandlung und Pluralität zu verwirklichen und Diskriminierung
zu verhindern. Wir zielen nicht darauf ab, Religionsgemeinschaften in den privaten Raum zu
verbannen. Allerdings wollen wir legitime Ansprüche von Menschen anderer oder ohne
Religionszugehörigkeit auch gegenüber verfassten Religionsgemeinschaften sowie in Fragen der
öffentlichen Repräsentation schützen und stärken. Dafür brauchen wir einen selbstbewussten,
weltanschaulich neutralen und aktiven Staat im Gegenüber zu den Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften.
4. Der säkulare Staat muss den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gegenüber
neutral sein und organisatorisch prinzipiell von ihnen getrennt sein. Er darf sich nicht mit
einer Religion oder Weltanschauung identifizieren und auch nicht eine von diesen bevorzugt
behandeln. Die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften haben ein verfassungsrechtlich
garantiertes Selbstordnungs- und -verwaltungsrecht. Das gibt ihnen das Recht, ihre inneren
Angelegenheiten selbst zu organisieren, ohne Einmischung des Staates. Bündnisgrüne
Religionspolitik erkennt dieses Recht als Konsequenz aus der grundsätzlichen Trennung von
Religion und Staat an. Allerdings gilt dieses Recht nicht unbeschränkt, sondern muss mit
anderen Grundrechten bzw. den Grundrechtspositionen Anderer ausgeglichen werden (praktische
Konkordanz). Dies kann zu neuen Entwicklungen bei der Verwirklichung von Grundrechten
führen, wie wir es beispielsweise für das kirchliche Arbeitsrecht fordern.
5. Neutralität und Trennung von Religion, Weltanschauung und Staat bedeuten kein
Kooperationsverbot. Bündnisgrüne Religionspolitik möchte das in Deutschland historisch
gewachsene kooperative Modell weiterentwickeln und hat Kriterien und Voraussetzungen für
eine Kooperation des Staates mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in einer
pluralen Gesellschaft erarbeitet. Zu solchen Voraussetzungen gehört beispielsweise auch die
Verpflichtung auf wissenschaftliche Methoden, wenn an staatlichen Hochschulen theologische
Lehrstühle in Kooperation mit einer Religionsgemeinschaft eingerichtet werden. Angesichts
der gewachsenen Vielfalt darf der Staat als Modell für Kooperationspartner nicht nur die
beiden großen christlichen Kirchen im Blick haben. Die Vorschläge zur Weiterentwicklung des
kooperativen Modells beinhalten an einigen Stellen – wie beispielsweise beim Umgang mit
Staatsleistungen oder der Abschaffung der Kirchenaustrittsgebühr – auch eine stärkere
Entflechtung von Religionsgemeinschaften und Staat.
Pluralität gewährleisten
Voraussetzung für eine Kooperation zwischen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und
dem Staat ist die Anerkennung der fundamentalen Verfassungsgüter, der Grundrechte Dritter
sowie der Grundprinzipien des freiheitlichen Religionsverfassungsrechts.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwarten von allen in der Gesellschaft und damit gerade auch von allen
Gemeinschaften, die in Kooperation mit dem Staat sind oder treten wollen, dass sie die
positive und negative Religions- und Weltanschauungsfreiheit umfassend anerkennen, dass sie
die Gleichheit von Frauen und Männern, die Rechte von Minderheiten und die Rechte von
Menschen, die ihr Selbstbestimmungsrecht nicht oder nur bedingt wahrnehmen können, ebenso
achten wie demokratische Willensbildungsprozesse. Wir erwarten im gesellschaftlichen
Miteinander, dass sie alle Formen von Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit,
ebenso wie Homophobie nirgends dulden. Ebenso erwarten wir von allen die Wahrung der
Meinungsfreiheit und das Zulassen von Kritik an religiösen Lehren, Praktiken und
Traditionen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten für Reformen ein, die der gewachsenen Vielfalt, der
Individualisierung und Pluralisierung der religiösen und weltanschaulichen Landschaft in
Deutschland gerecht werden. Der Anspruch auf Gleichberechtigung ist nicht nur legitim, er
ist verfassungsrechtlich geboten und gesellschaftspolitisch erwünscht. Im kooperativen
Verhältnis zwischen Staat und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften müssen dafür aber
auch auf der Seite der Gemeinschaften die Voraussetzungen dafür erfüllen. Dies sind
Bekenntnisförmigkeit, mitgliedschaftliche Organisation, Erfüllung aller Aufgaben der Pflege
des religiösen Bekenntnisses.
- Islamische Gemeinschaften können und sollen als Religionsgemeinschaften anerkannt
werden, wenn sie die rechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllen. Wenn sie die Gewähr
der Dauer bieten, können sie auch den Körperschaftsstatus erlangen und somit gegenüber
den Kirchen gleichberechtigt werden. Die Muslimas und Muslime und ihre Organisationen
müssen dabei freilich selbst entscheiden, ob und wie sie in der Vielfalt muslimischen
Lebens die Voraussetzungen dafür schaffen wollen, um ein institutionalisiertes
Kooperationsverhältnis mit dem Staat zu erreichen. Die vier großen muslimischen
Verbände (Ditib, Islamrat, Zentralrat der Muslime, V.I.K.Z.) erfüllen aber aus grüner
Sicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die vom Grundgesetz geforderten
Voraussetzungen an eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Religionsverfassungsrechts.
Sie sind religiöse Vereine. Ihre Identität und Abgrenzung untereinander ist nicht
durch Unterschiede im religiösen Bekenntnis begründet, sondern politischen und
sprachlichen Identitäten aus den Herkunftsländern und der Migrationsgeschichte
geschuldet. Die DITIB ist dabei zudem eine Tochterorganisation des Präsidiums für
Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) in Ankara. Die strukturelle
Abhängigkeit von einem Staat und dessen jeweiliger Regierungspolitik entspricht nicht
der grundgesetzlich geforderten Trennung von Religion und Staat.
- Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zum Kopftuch die positive
Religionsfreiheit gestärkt. Der Staat hat demnach nicht zu beurteilen, welche
Bekleidungsvorschriften jemand aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen für sich
als verpflichtend ansieht oder nicht. Pauschale Verbote kann es nach diesem Urteil
nicht mehr geben. Entsprechende Regelungen müssen zudem diskriminierungsfrei erfolgen,
also für alle Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen gelten. Gerungen wird
derzeit allerdings nicht mehr nur über das Kopftuch, sondern über ein Burkaverbot und
ein Burkiniverbot.
Erhoben wurden diese Forderungen von Seiten der Union vor allem als
Wahlkampfauseinandersetzung oder zuletzt als Teil der Antwort der CDU Innenminister
auf terroristische Anschläge. Doch Kleidungsvorschriften für Frauen sind keine
Antworten auf das berechtigte Schutzbedürfnis der Menschen.
Wir Grünen sagen klar: Niemand darf Frauen vorschreiben, was sie aus religiösen
Gründen anzuziehen haben, noch sie zwingen, sich auszuziehen. Wir haben als Grüne in
der Vergangenheit gegenüber den Kirchen zu ihren Vorstellungen von Geschlechterrollen
oder der kirchlichen Sexuallehre kein Blatt vor den Mund genommen. Genauso werden wir
auch gegen frauenfeindliche Haltungen im Islam streiten. Burka und Niqab sind Ausdruck
einer patriarchalischen, frauenfeindlichen Gesellschaftsordnung, die wir ablehnen.
Auch die große Mehrheit der Muslime sieht die derartig weitgehende Verhüllung nicht
als religiöses Gebot. Aber nicht alles, was man falsch findet, kann man verbieten. Das
Grundgesetz gibt hier hohe Hürden vor. Partielle Verbote der Vollverschleierung müssen
gut begründete Ziele haben. Für die Identitätsfeststellung einer Person oder die
Sicherheit im Straßenverkehr, gibt es beispielsweise heute bereits Regelungen. Ob es
weitere Regelungsbedarfe gibt, muss gründlich geprüft werden.
In der aktuellen Debatte wird stattdessen auf dem Rücken von Frauen eine Symbolpolitik
betrieben, die im Ergebnis antimuslimische Ressentiments befördert und mit der
Rechtspopulist*innen sogar zum Ziel haben, Muslim*innen zu diskriminieren. Die
Diskussion ist eine Scheindebatte die von den tatsächlich sicherheitspolitisch
entscheidenden Maßnahmen, wie einer starken, modernen und adäquat ausgestatteten
Polizei sowie von Prävention ablenkt.
Wer wirklich etwas für die Selbstbestimmung von Frauen tun will, der sollte
beispielsweise Beratungsstellen finanziell fördern, die Frauen über ihre Rechte
aufklären und ihnen Schutz gewähren, wenn sie in ihrer Freiheit und Selbstbestimmung
bedrängt oder bedroht werden.
- Niemand darf wegen seiner Religion oder Weltanschauung diskriminiert werden. Das ist
nicht nur in der Verfassung verankert, sondern z.B. für den Bereich Beschäftigung und
Beruf und im Zivilrechtsverkehr auch im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
näher geregelt. In der Praxis kommt es freilich immer noch oft zu Benachteiligungen.
Wir wollen daher das AGG effektiver gestalten und zur besseren Rechtsdurchsetzung ein
Verbandsklagerecht vorsehen.
- Wir setzen uns dafür ein, die öffentlichen Gedenk- und Trauerkultur zu überprüfen, die
bisher oft an die beiden großen christlichen Kirchen delegiert wird. Wir wollen eine
öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie die Belange anderer religiöser und
weltanschaulicher Gemeinschaften und die Belange religions- oder weltanschauungs-
gemeinschaftsfreier Menschen berücksichtigt werden können.
- Wir wollen Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten. In Krankenhäusern,
Heimen, bei der Bundeswehr oder in der Justizvollzugsanstalt ist der Staat in der
Pflicht, Zugänge für qualifiziertes und geeignetes religiöses und weltanschauliches
Personal zu gewährleisten. Diejenigen, die diesen Seelsorgedienst versehen, sind
verpflichtet, die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 Grundgesetz,
die Freiheitsgrundrechte und die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu wahren.
Hierauf muss der Staat auch wegen seiner staatlichen Verantwortung in Anstalten
besonders achten.
Wir begrüßen das soziale Engagement von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Grundsätzlich sehen wir Wohlfahrtspflege und Daseinsvorsorge als staatliche Aufgaben. Deshalb soll der Staat Grundversorgung an sozialen, medizinischen, bildungs- und Beratungs- und Versorgunsangeboten sicherstellen. Diese Grundversorgung kann durch Angebote von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ergänzt werden. Wir begrüßen und unterstützen Konzepte zur kultursensiblen und pluralistischen
Fortentwicklung der Wohlfahrtspflege und treten dafür ein, dass den Menschen möglichst
eine Vielfalt an Angeboten zur Verfügung steht, auch in Gebieten, wo die großen.
christlichen Wohlfahrtsverbände heute noch Monopolcharakter haben
- Es muss grundsätzlich gewährleistet sein, Bestattungen nach den jeweiligen religiösen
und weltanschaulichen Vorschriften vornehmen zu können. Wir unterstützen die
vielerorts bereits praktizierte interkulturelle Öffnung von Friedhöfen auch in
kirchlicher Trägerschaft und setzen uns für deren Fortentwicklung ein. Eingriffe in
das Recht, die Form der Bestattung und der letzten Ruhe selbst zu wählen, können nur
durch hygienisch begründete Vorschriften und die Rechte Dritter gerechtfertigt werden.
Wir halten den Friedhofszwang bei Urnenbeisetzungen nicht für gerechtfertigt.
- Wir setzen uns dafür ein, dass in den Feiertagsregelungen der Bundesländer die
Mitglieder einer anerkannten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft eine
angemessene Anzahl arbeitsfreier Tage eingeräumt bekommen, um die Feiertage ihrer
Gemeinschaft begehen zu können. Eine analoge Regelung soll es auch für Schüler*innen
geben. An den gesetzlichen Feiertagen wollen wir festhalten: Die Gesellschaft braucht
Sonn- und Feiertage, damit sich die Menschen jenseits von Büro- und
Ladenöffnungszeiten ausruhen und das soziale Miteinander pflegen können.
- Für einen angemessenen bekenntnisorientierten Religionsunterricht auf der Grundlage
des Verfassungsrechts des jeweiligen Bundeslandes braucht es entsprechende akademische
Ausbildung des Lehrpersonals. Unbedingt zu empfehlen ist daher die Etablierung
theologischer Studien zu den jeweiligen Religionen und auch für
Weltanschauungsgemeinschaften, die wie der Humanistische Verband
bekenntnisorientierten Unterricht an Schulen anbieten. Wo anerkannte
Religionsgemeinschaften als Partner fehlen, kann der Landesgesetzgeber nach dem
Vorbild des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes mit einem Beirat, der mit Vertretern
islamischer Organisationen und Sachverständigen besetzt ist, vorübergehend die Rolle
der Religionsgemeinschaften substituieren. Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist wesentliche
Voraussetzung, dass ein solches Gremium die tatsächliche Breite des muslimischen
Spektrums in Deutschland angemessen widerspiegelt.
- Bündnis 90/Die Grünen treten für eine Besetzung der Rundfunk- und Fernsehräte ein, in
der sich die heutige gesellschaftliche, religiöse und weltanschauliche Pluralität
Deutschlands widerspiegelt.
- Wir plädieren für schärfere Differenzierung und Lockerung bzgl. der sogenannten
„Tanzverbote“– vor allem im Hinblick auf öffentliche bzw. nicht-öffentliche
Veranstaltungen, Aufzüge und Kundgebungen. Maßstab für die individuelle Freiheit
einschränkende Regeln an religiös begründeten Stillen Tagen kann nur die
Rücksichtnahme auf die religiöse Praxis anderer sein. Zusätzlich halten wir es für
angebracht, dass die Kommunen größeren Spielraum bei der Ausgestaltung der Stillen
Tage erhalten, um den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Bevölkerungsgruppen
in den jeweiligen Regionen entgegen kommen zu können.
- Unser demokratischer Rechtsstaat hält alle notwendigen Mittel bereit, um sich gegen
Individual- und Kollektivbeleidigung und auch gegen Volksverhetzung zu wehren. Deshalb
wollen wir §166 StGB streichen. Dadurch entsteht keine Strafbarkeitslücke, da die
Vorschriften über Beleidigung, Verleumdung und Volksverhetzung völlig ausreichend
sind, um eine Gefährdung öffentlichen Friedens durch die Beleidigung von religiösen
Überzeugungen wirksam zu ahnden
- Gesetz über Beschneidungen evaluieren: Wir schlagen vor, das Gesetz vom 12.12.2012 zu
evaluieren. Dazu soll dem Deutschen Bundestag in der nächsten Legislaturperiode ein
Evaluationsbericht der Regierung (BMG und BMJ) vorgelegt werden. Ziel der Evaluation
ist es zu überprüfen, ob das Gesetz umfassend angewendet wird, ob es hinreichend
sicherstellt, dass der medizinisch nicht indizierte Eingriff so schonend und
altersgemäß wie möglich ausgeführt wird, und ob sich in der Praxis ggf.
Regelungslücken gezeigt haben. Aus dem Bericht sind Schlussfolgerungen zu ziehen unter
Einbeziehung der Betroffenen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen sowie
Vertreter*innen der jüdischen Religionsgemeinschaften und muslimischen Vereine und
Verbände.
Kirchliches Arbeitsrecht reformieren
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehen dringenden Reformbedarf hinsichtlich des kirchlichen
Arbeitsrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Individuelle Grundrechte wie die
individuelle Religionsfreiheit, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht
auf Privat- und Familienleben sowie das Recht auf Arbeits- bzw. Berufsfreiheit, d.h.
diskriminierungsfreier Zugang, Durchführung, Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen
können im Konflikt stehen mit dem Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht der Kirchen als
Träger von Betrieben in kirchlicher Trägerschaft.
Das besondere Arbeitsrecht für Beschäftigte in Kirchen und in Betrieben kirchlicher Träger
enthält deutliche Beschränkungen der Rechte von Arbeitnehmer*innen im Verhältnis zu den
Rechtspositionen von Beschäftigten in anderen Unternehmen und in karitativen, sozialen und
erzieherischen Einrichtungen nichtkirchlicher Träger. Außerdienstliches und privates
Verhalten eines Beschäftigten einer Kirche, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft,
dessen Tätigkeit nicht den Bereich der Verkündigung umfasst, darf keine arbeitsrechtlichen
Auswirkungen haben. Die persönlichen Loyalitätspflichten von Mitarbeiter*innen außerhalb des
Bereiches der religiösen Verkündigung, also in der Wohlfahrtspflege oder im Bildungsbereich,
halten wir für unverhältnismäßig.
Durch Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (§ 9 Abs. 1 AGG) und der
arbeitsrechtlichen EU-Antidiskriminierungsrichtlinie (Art. 4 Abs. 2) wollen wir die
Ausnahmen für die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften enger fassen und damit den
individuellen Rechten deutlich mehr Geltung verschaffen. Der Staat muss seiner Schutzpflicht
gerecht werden und einen Rechtsrahmen schaffen, innerhalb dessen Gerichte eine gerechte
Abwägung vornehmen können zwischen den Arbeitnehmer- und den besonderen Arbeitgeberrechten.
Koalitionsfreiheit und Streikrecht wollen wir als soziale Grundrechte für Arbeitnehmer auch
in Betrieben in kirchlicher Trägerschaft gewährleisten. Sie sind unserer Überzeugung nach
mit einem Tendenzschutz und dem kirchlichen Recht auf Selbstordnung und Selbstverwaltung
vereinbar. Für den Bereich des kollektiven Arbeitsrechts fordern wir daher die Überprüfung
des Regelungsgehalts von § 112 Personalvertretungsgesetz und §118 Abs. 2
Betriebsverfassungsgesetz. Ziel ist, den generellen Ausschluss von Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften und von deren karitativen und sozialen Einrichtung aus dem
Wirkungsbereich dieser beiden Gesetze auszuschließen, sodass eine Gleichbehandlung mit
anderen karitativen und sozialen Betrieben i.S.d. § 118 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz
erfolgt. Die berechtigten Belange kirchlicher und weltanschaulicher Einrichtungen werden
dabei insofern gewährleistet, als sie dem spezifischen kirchlichen Tendenzschutz
unterliegen. Bei einer Novelle sollen nach Möglichkeit jetzige spezifische Möglichkeiten der
Interessenvertretung der Mitarbeiter*innen kleinerer kirchlicher Arbeitgeber gewahrt
bleiben, wenn dies von den Mitarbeiter*innen gewünscht wird und die Rechte der
Mitarbeiter*innen nicht eingeschränkter sind als bei einer Anwendung von PersVG oder BetrVG.
Weiterhin soll es – bei Berücksichtigung der vorstehenden Überlegungen - die Möglichkeit
geben, überbetriebliche Interessenvertretungen im Rahmen einer Neuregelung zu wahren bzw. zu
etablieren, Optionen der kirchlichen Mitarbeitervertretung zu erhalten, die über die
bisherigen Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes sogar hinausgehen.
Kirchenfinanzen transparenter machen
Die Bürger*innen erwarten heutzutage zu Recht mehr Transparenz von staatlichem Handeln. Das
gilt auch für Körperschaften öffentlichen Rechts. Wir wollen deshalb höhere Anforderungen an
den Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften stellen. Unser Ziel ist, dass
Körperschaften des öffentlichen Rechts sowohl ihre Vermögen als auch die Einnahmen und
Ausgaben offen legen. Wir begrüßen, dass sowohl die evangelische als jüngst auch die
katholische Kirche Schritte in Richtung Transparenz unternommen haben und wollen prüfen, ob
es einfachgesetzliche Möglichkeiten gibt, dieses Ziel zu erreichen. Sollte dies nicht der
Fall sein, dann wollen wir die entsprechenden Voraussetzungen durch eine Änderung des
Grundgesetzes schaffen: eine Kompetenznorm im Grundgesetz würde eine einfachgesetzliche
Regelung ermöglichen.
Kirchensteuer reformieren
Das Bundesverfassungsgericht hat das Kirchen- bzw. Gemeindesteuersystem als
verfassungskonform bestätigt. Politisch gibt es aus Sicht von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gute
Gründe für wie gegen die Kirchensteuer. Unbeschadet dieser grundsätzlichen Frage ist in
jedem Fall der aktuelle Kirchensteuereinzug reformbedürftig, um Gleichbehandlung und
Datenschutz zu gewährleisten. Bündnis 90/Die Grünen schlagen deshalb folgende Reformen im
bestehenden System vor:
- Reform der Sonderausgabenabzugsmöglichkeit der Kirchensteuer: Wir wollen die
Bevorzugung der Kirchenmitglieder beenden, künftig sollen nicht kirchen-
/gemeindesteuerpflichtige Steuerzahler*innen einen zusätzlichen, zur Kirchensteuer
analogen Spendenfreibetrag für religiöse, mildtätige oder gemeinnützige Zwecke
erhalten, sofern sie diese Spenden auch tatsächlich leisten.
- Datenschutz beim Zwang zur Offenbarung der Kirchenzugehörigkeit gegenüber Dritten: Wir
wollen, dass weder Arbeitgeber noch Kreditinstitute persönliche Daten über die
Konfessionszugehörigkeit bzw. –losigkeit aus Lohnsteuerkarte oder Kapitalertragssteuer
erfahren dürfen. Wir halten es verfahrenstechnisch für möglich, Wege zu schaffen für
diejenigen, die den konkreten Status für Dritte nicht sichtbar machen wollen (ohne
dass sich dadurch Zahlungspflichten verändern). Denn für die Kirchensteuerzahlung ist
der Quellenabzug, also die Abführung über Arbeitgeber oder Kreditinstitute, nicht
zwingend.
- Reform der Kirchensteuerzahlung im Fall von geringfügig Beschäftigten: Der Arbeitgeber
muss eine einheitliche Pauschsteuer für Soli-Zuschlag und Kirchensteuer für das aus
geringfügigen Beschäftigungen erzielte Einkommen in Höhe von zwei Prozent des
Arbeitsentgelts abführen. Dies kann zur Besteuerung von Nichtkirchenmitgliedern
führen. Darum wollen wir, dass in diesen Fällen auf die Erhebung von Kirchensteuern
verzichtet wird, wenn sich das ohne bürokratischen Mehraufwand regeln lässt.
- Reform der Besteuerung von glaubensverschiedenen Ehen, besonders des sog.
Lebensführungsaufwands in Form des besonderen Kirchgeldes: Wir schlagen vor, die
Kirchensteuer von einkommenslosen Ehegatten am ehelichen Unterhaltsanspruch statt am
Lebensführungsaufwand zu orientieren. Damit wollen wir dem Prinzip Rechnung tragen,
dass nur von Kirchensteuern betroffen ist, wer selbst Mitglied einer Kirche ist. Eine
Individualbesteuerung von Ehepaaren würde diese Reform allerdings überflüssig machen.
- Rechtssicherer und kostenloser Kirchenaustritt: Wir wollen rechtssichere Wege für den
Kirchenaustritt schaffen. Es kann nicht sein, dass das ausgetretene Mitglied bis zum
Ende des Lebens beweispflichtig für den Austritt bleibt. Außerdem wollen wir die
Gebühr beim Kirchenaustritt abschaffen, die der Staat bislang erhebt, um die Kosten zu
decken, die durch die Entgegennahme der Austrittserklärung und die Dokumentation
entstehen. Der Staat übernimmt hier eine Aufgabe für die Kirchen. Hat er dafür
Mehrausgaben, so muss er diese pauschal mit den Kirchen abrechnen.
Staatsleistungen ablösen
Die Kirchen erhalten vom Staat bis heute Leistungen als Entschädigung für Enteignungen in
der Zeit der Säkularisierung. Der grundgesetzliche Auftrag zur Ablösung dieser
Staatsleistungen ist bislang nicht umgesetzt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern, dass durch die
Bundesregierung unverzüglich eine Expertenkommission eingesetzt wird, die eine
Gesamtübersicht über die Staatsleistungen im Sinne des Artikels 138, Absatz 1 der Weimarer
Reichsverfassung vom 11. August 1919 anfertigt und Vorschläge für eine entsprechende
Ablösungs-Gesetzgebung unterbreitet. Dabei geht es um die sogenannten historischen
Staatsleistungen, nicht um neu begründete, wie die mit dem Zentralrat der Juden.Außerdem
fordern wir den Bund und die Länder auf, in konkrete Gespräche einzutreten. Angesichts der
unterschiedlichen Situation und der unterschiedlichen Höhe der gezahlten Leistungen in den
Ländern wird es jeweils passgenaue Lösungen geben müssen.
Parallel dazu sollte ein Dialog mit der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der
Evangelischen Kirche in Deutschland begonnen werden, um möglichst zügig die erstrebten
Ablösungen der Staatsleistungen umsetzen zu können. Das „Ablösungsgrundsätzegesetz“ kann im
Rahmen einer Vereinbarung mit oder ohne die Zustimmung der betroffenen Kirchen von Bundestag
und Bundesrat verabschiedet werden, da es nur die Modalitäten einer späteren Ablösung
festlegt.
Zusätzlich und unabhängig von der großen Lösung wollen wir auf Vertrag beruhende Ablösungen
vorantreiben und die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen. In einigen
Bundesländern findet de facto bereits eine Teilablösung statt, bei der durch Vereinbarungen
zwischen Land und Kirchen pauschal staatliche Verbindlichkeiten abgelöst werden. Um der
Öffentlichkeit eine qualifizierte Darstellung der Staatsleistungen zu geben, fordern wir
diejenigen Länder, bei denen das nicht transparent genug ist auf, die jährlichen
Haushaltspläne so zu ändern, dass die Staatsleistungen differenziert dargestellt werden.
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