Veranstaltung: | 40. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | SO Sozialer Zusammenhalt |
Antragsteller*in: | Katrin Langensiepen |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 29.09.2016, 11:27 |
SO-02 (vormals V-15): Das Grundrecht auf Existenzsicherung nachhaltig gestalten – für eine umfassende Reform der Grundsicherung und der Arbeitsmarktfördermaßnahmen
Antragstext
„Eine kluge Sozialpolitik sorgt dafür, dass der Mensch Bürgerin und Bürger sein kann.“
Aus den zahlreichen inzwischen vorliegenden Untersuchungen und Veröffentlichungen von
Verbänden und einzelnen Wissenschaftlern zum Thema Grundsicherung und aus vielen Berichten
Betroffener müssen wir die Schlussfolgerung ziehen, dass das System „Hartz IV“ als
Grundsicherung aktuell weder in der Lage ist, den Betroffenen eine angemessene Teilhabe an
unserer Gesellschaft zu gewähren, noch die Möglichkeit bietet, den arbeitsfähigen unter
ihnen aus ihrer Situation heraus zu helfen. Tatsächlich haben die mit der „Agenda 2010“
eingeführten „arbeitsmarktfördernden Maßnahmen“ bei Zeitarbeit, Arbeitskräfteverleih und
Minijobs zu massiver Niedriglohnbeschäftigung geführt, die zahlreiche Arbeitnehmer selbst
mit Vollzeit-Jobs zu Hartz IV-Aufstockern machen und so aus der Armutsfalle nicht mehr
herauskommen. Besonders besorgniserregend sind der hohe und weiter zunehmende Anteil der in
Armut lebenden Kinder und die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit auf hohem Niveau.
Wer in Deutschland eine Grundsicherung durch den Staat benötigt, wird zunächst mit einem
unübersichtlichen System von rechtlichen Regelungen konfrontiert. Bereits bei der Frage des
Zugangs finden sich erhebliche Barrieren durch unterschiedlichste gesetzliche
Zuständigkeiten – als steuerfinanzierte Leistungen gibt es das Arbeitslosengeld II, das
Sozialgeld, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die Hilfe zum
Lebensunterhalt, sowie die Berufsausbildungsbeihilfe und das BAföG und bedauerlicherweise
nach wie vor das Asylbewerberleistungsgesetz. Und selbst wenn man an der richtigen Stelle
ankommt, beginnt eine komplizierte Spirale von Bedürftigkeitsprüfungen und
Bedarfsermittlungen, die bis zum Leistungsbezug mit hohen Unsicherheiten für die
Anspruchsberechtigten verbunden ist. Aber auch dann bleibt keine Verlässlichkeit über die
Hilfeleistungen, jede oft auch nur vorübergehende Veränderung der Lebenssituation führt zu
verwaltungsintensiven Neuberechnungen, eventuellen Rückforderungen und Rechtskreiswechseln.
Für erwerbsfähige Betroffene drohen darüber hinaus „Verhaltenssanktionen“, die den
Grundbedarf an Leistungen betreffen. Angesichts dieser Situation ist es wenig verwunderlich,
dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Sozialstaat schwindet, Armut zunimmt
und sich Abstiegsängste verstärken.
Wir brauchen aber gerade in der aktuellen Situation mit den Herausforderungen bei der
Zuwanderung, der Bekämpfung von Armut und verfestigter Langzeit-Arbeitslosigkeit ein starkes
und robustes soziales System, das verlässliche und unkomplizierte Hilfe leisten kann; dies
umso mehr, weil die immer tiefer greifenden Gerechtigkeitsdefizite in unserer Gesellschaft
zunehmend auch rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte hervorbringen, die das
solidarische Zusammenleben bei uns in Frage stellen.
„Ausgrenzung statt Teilhabe an der Gesellschaft“ – so lautet zusammengefasst das Ergebnis
von 10 Jahren SGB-Reformen. Das beginnt bereits mit der völlig unzureichenden Höhe der
Leistungen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen betont, dass die
Sicherung des Existenzminimums ein Grundrecht ist und die Berechnung des Regelsatzes nicht
ins politische Belieben gestellt ist. Sie ist verbindlicher Auftrag der Sozialpolitik und
notwendige Voraussetzung für ein Leben in Würde.
Nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands wurden jedoch noch nicht einmal die
eigenen Berechnungsgrundlagen der Bundesregierung von dieser korrekt angewandt: Nach einer
Expertise der Paritätische Forschungsstelle müsste eigentlich der Regelsatz für einen
alleinstehenden Erwachsenen bei korrekter und vollständiger Anwendung des von der
Bundesregierung selbst gewählten Statistikmodells zum 1.1.2017 auf 520 Euro statt auf 409
Euro angehoben werden.[1] Die Diakonie hat zudem berechnet, dass die Rechentricks der
Bundesregierung den Regelsatz um 140 Euro vermindern.[2]
Eine umfassende Reform der Grundsicherung muss alle Leistungen dieses Systems innerhalb der
Sozialgesetzbücher in den Blick nehmen. Eine isolierte Betrachtung des Rechtskreises des SGB
II („Hartz IV“) führt nach den bisherigen Erfahrungen zu einer nicht ausreichenden
Verbesserung für die Leistungsberechtigten und ausdrücklich auch nicht zu einer
ausreichenden Entlastung der zuständigen Behörden (Jobcenter und Sozialämter). Das hat auch
das sogenannte Rechtsvereinfachungsgesetz im SGB II gezeigt, dass statt Vereinfachungen an
vielen Stellen Rechtsverschärfungen enthielt.
Im Bereich der Arbeitsmarktförderung können die statistischen Zahlen zur Arbeitslosigkeit
nicht darüber hinweg täuschen, dass ein Großteil der Erwerbslosen vergleichsweise chancenlos
bleibt. Dies gilt besonders für über eine Million langzeitarbeitsloser Menschen, die die
jetzige Bundesregierung völlig aus den Augen verloren hat. Es bedarf daher der Einrichtung
eines verlässlichen sozialen Arbeitsmarktes mit Hilfe öffentlich geförderter Beschäftigung
und erhöhter zielgerichteter Eingliederungsmaßnahmen für die Menschen im SGB II-Bezug. Um
außerdem sozialen Abstiegsängsten z.B. durch drohende Arbeitslosigkeit zu begegnen, brauchen
wir eine Verlängerung der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung (ALG I).
Bündnis90/Die Grünen haben zu einer existenzsichernden und konsequent teilhabeorientierenden
Grundsicherung sowie zur Verbesserung bei Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt
bereits richtungsweisende Parteitags- und Fraktionsbeschlüsse gefasst – wie u.a. im Antrag
„Grundsicherung einfacher und gerechter gestalten – Jobcenter entlasten“ (18/8077), im
Antrag „Existenzminimum und Teilhabe sicherstellen – Sanktionsmoratorium jetzt“ (18/1963),
im Antrag 17/3207 der Bundestagsfraktion aus dem Jahre 2010 („Rechte der Arbeitsuchenden
stärken“), dem Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion zur Einrichtung eines Sozialen
Arbeitsmarktes aus 2012 (BT-Drucksache 17/11076), dem Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion
zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes (18/2736), dem Teilhabebeschluss auf der
BDK im November 2012 („Eine Gesellschaft für alle“), im Bundestagswahlprogramm 2013, dem
Antrag 18/3918 („Arbeitsförderung neu ausrichten“) der Bundestagsfraktion und mit dem
Arbeitszeitpolitik-Beschluss auf der BDK im November 2015.
Vor diesem Hintergrund spricht sich die Bundesdelegiertenkonferenz für folgende
Veränderungen im Leistungsbereich der Sozialgesetzgebung aus:
1. Die Regelsätze werden konsequent verfassungskonform, tatsächlich bedarfsdeckend und damit
armutsfester gestaltet, wobei die Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands eine
nachvollziehbare Datenbasis setzen. Wir fordern zudem angemessene Freigrenzen (Einkommen und
Vermögen) bei der Bedarfsfeststellung.
2. Eine teilhabeorientierte Existenzsicherung – gerade für Frauen und Kinder – setzt eine
Individualisierung der Bedarfsberechnung voraus, Bedarfsgemeinschaften sichern diesen
Anspruch nicht. Die Regelsätze für Kinder müssen eigenständig berechnet werden.
3. Der Zugang zu allen Grundsicherungsleistungen muss leichter und barrierefrei werden. Wir
streben eine Bündelung verschiedener gleichartiger Ansprüche zu einer einheitlichen
Grundsicherung an.
4. Die „Bestrafungslogik“ im Grundsicherungssystem steht zunehmend im Widerspruch zur
selbstbestimmten Teilhabe. Sanktionen gefährden sowohl den kooperativen Charakter des
Fallmanagements wie auch ein menschenwürdiges Existenzminimum. Wir bekennen uns daher
weiterhin zu einem Sanktionsmoratorium – zumindest bis die Rechtsstellung der Betroffenen
gegenüber dem Fallmanager wesentlich verbessert ist – für den gesamten Leistungsanspruch der
Betroffenen, insbesondere für alle Sonderregelungen bei Menschen unter 25 und vollständig
für die Kosten der Unterkunft und Heizung. Die Rechte der Leistungsberechtigten müssen
gestärkt und die Leistungsbeziehenden diskriminierende Sonderrechte abgeschafft werden. So
lehnen wir die nachträgliche Rückforderung von Leistungen durch die Jobcenter aufgrund von
sogenanntem „sozialwidrigem Verhalten“ ab. Sachbearbeiter werden in die Rolle von Richtern
gedrängt, die »Tatbestände« nach eigenem Ermessen ermitteln und bereits als Existenzminimum
deklarierte Leistungen entsprechend kürzen oder zurückfordern sollen. Die Grundlage dafür
ist vage und öffnet der Willkür die Türen. Im Falle von etwaigem Betrug durch
Leistungsempfänger ist das StGB ausreichend.
5. Wiedereinführung eines Rentenversicherungsbeitrags für ALG-II-Empfänger*innen.
Die Bundesdelegiertenkonferenz spricht sich ebenfalls für Veränderungen im Zusammenhang mit
der Arbeitsmarktintegration aus:
1. Grundsätzlich bekommen alle erwerbsfähigen Arbeitsuchenden Zugang sowie ein Wahlrecht zu
sämtlichen Eingliederungsmaßnahmen der Arbeitsverwaltungen. Für Langzeitarbeitslose wird ein
sozialer Arbeitsmarkt mit Hilfe des sog. Passiv-Aktiv- Transfers geschaffen.
2. Prekäre Beschäftigung und die Unsicherheit bei drohendem Arbeitsplatzverlust sind die
größten Risiken für gesellschaftliche Teilhabe. Darum muss die Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld (ALG I) stufenweise für alle Anspruchsberechtigten wieder deutlich
angehoben werden.
3. Die generelle Sozialversicherungspflicht für geringfügige Beschäftigung wird wieder
hergestellt.
[1]Der Paritätische, Regelsätze 2017: Kritische Anmerkungen zur Neuberechnung der Hartz IV-
Regelsätze vom September 2017. http://www.der-
paritaetische.de/nc/pressebereich/artikel/news/hartz-iv-paritaetischer-fordert-regelsatz-
von-520-euro/
[2] Stellungnahme der Diakonie Deutschland zum Referentenentwurf vom 15. September 2016.
http://www.diakonie.de/entwurf-eines-gesetzes-zur-ermittlung-von-regelbedarfen-17253.html
Begründung
Die Verwirklichung einer sozial gerechten Gesellschaft, in der für alle Menschen die grundlegenden Bedürfnisse nicht nur nach Nahrung, Kleidung und Unterkunft, sondern auch nach Teilhabe an Bildung, Kultur, Kommunikation und gesellschaftlichem Zusammenleben befriedigt sein sollten, ist eine Grundforderung der GRÜNEN seit unserer Gründung. Dazu unser Grundsatzprogramm von 2002: „Vorrangiges Ziel unserer Politik ist es, Armut und soziale Ausgrenzung zu vermeiden und die soziale Lage der am schlechtesten Gestellten zu verbessern. Wir wollen Teilhabegerechtigkeit herstellen, die allen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu den wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen Bildung, Arbeit und politische Partizipation eröffnet.“[1]
Von der Erfüllung dieser minimalen Anforderungen sind große Gruppen unserer Gesellschaft nach wie vor weit entfernt; schlimmer sogar: Der Anteil derjenigen, die in materieller Armut leben müssen oder von Armut bedroht sind, nimmt regional sogar zu, insbesondere auch der Anteil in Armut lebender Kinder. Eine stark zunehmende Gruppe sind dabei die Alleinerziehenden mit Kind(ern), 42% von diesen Haushalten fallen darunter. Den größten Zuwachs bei der Armutsquote verzeichnen jedoch die Rentner*innen (+45% seit 2005). Es sind also die Schwächsten, die am wenigsten in der Lage sind, irgendeine Perspektive aus ihrer Situation heraus zu erspähen, die in das Armutsloch fallen.
Nach einer Untersuchung des „Paritätischen Wohlfahrtsverbandes“ [2] beträgt die Armutsquote in Deutschland im Jahr 2014 15,4 Prozent. Das bezieht sich auf das Kriterium der sog. „relativen Armut“: Menschen, denen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland zur Verfügung steht. Zu beachten ist, dass in dieser Statistik Obdachlose und Flüchtlinge noch gar nicht erfasst sind!
Bedenklich stimmt, dass von interessierten Kreisen in den Medien nunmehr der Versuch unternommen wird, diese seit langem in der EU angewandte Armutsdefinition in Zweifel zu ziehen: Da ist sogar von „Alarmismus“ seitens einer „Armutslobby“ die Rede.[3] Offensichtlich haben diese Kreise es aufgegeben, zumindest den Eindruck zu erwecken, an der zunehmenden Armut in der Gesellschaft etwas ändern zu wollen, stattdessen wird das Problem wegdiskutiert. Hierzu stellt der „Paritätische“ fest, dass das (alternative) Bewertungs-Modell der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes, das der HartzIV-Pauschale zugrunde liegen sollte(!) (tatsächlich ist der HartzIV-Satz sogar noch geringer - mehr dazu unten), zu keinem wesentlich anderen Ergebnis kommt: „...so fällt auf, dass bei fast allen Haushaltstypen, in denen Kinder leben, fast flächendeckend die 60-Prozent-Schwelle noch unterhalb des nach dem Statistikmodell errechneten soziokulturellen Existenzminimums liegt.“[4]
Das heißt nichts anderes, als dass das mittlere (Arbeits-)Einkommen der Familien mit Kindern inzwischen so niedrig ist, dass 60% davon bereits das soziokulturelle Existenzminimum nicht mehr sicher stellen können, selbst wenn beide Elternteile arbeiten!
Die Regelsätze werden zudem auf der Basis von Einkommensgruppen berechnet, die in den letzten Jahren unter Einkommenseinbußen litten. So sind die Einkommen der Vergleichsgruppen, auf deren Grundlage der Regelsatz berechnet wird, seit 2008 nicht wie die durchschnittlichen Löhne deutlich gestiegen, sondern preisbereinigt sogar leicht gesunken.[5] Auf diese Weise werden die Hartz IV-Beziehenden immer weiter von der gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung abhängt.
Aus den zahlreichen inzwischen vorliegenden Untersuchungen und Veröffentlichungen von Verbänden und einzelnen Wissenschaftlern zu diesem Thema sowie aus vielen Berichten Betroffener müssen wir die Schlussfolgerung ziehen, dass das System „Hartz IV“ und Grundsicherung aktuell weder in der Lage ist, den Betroffenen eine angemessene Teilhabe an unserer Gesellschaft zu gewähren, noch die Möglichkeit bietet, den arbeitsfähigen unter ihnen aus ihrer Situation heraus zu helfen. Tatsächlich sind durch die weiteren mit der „Agenda 2010“ eingeführten „arbeitsmarktfördernden Maßnahmen“ bei Zeitarbeit, Arbeitskräfteverleih und Minijobs die Löhne so weit gesunken, dass zahlreiche Arbeitnehmer gezwungen sind, selbst bei Vollzeit-Jobs mit Hartz IV aufzustocken, also aus der Armutsfalle gar nicht mehr herauskommen.
Dazu der Armutsbericht: „Hinzu kommt die sehr hohe Anzahl der sogenannten Aufstocker*innen, also der Alleinerziehenden, die trotz Erwerbstätigkeit auf Leistungen des SGB II angewiesen sind und nicht in der Lage sind, ein Einkommen oberhalb des sozialrechtlich definierten Existenzminimums zu erzielen. Ihr Anteil beträgt 35 Prozent. Besonders alarmierend ist hier die Zahl der Alleinerziehenden, die in Vollzeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und trotzdem auf staatliche Transferleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ihrer Familie angewiesen sind (rund 21.000 Alleinerziehende).“[6]
„Ausgrenzung statt Teilhabe an der Gesellschaft“ – so lautet zusammengefasst das Ergebnis von 10 Jahren SGB-Reformen. Das beginnt mit der völlig unzureichenden Höhe der Leistungen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen festgestellt, dass die Sicherung des Existenzminimums nicht ins politische Belieben gestellt werden darf. Sie ist verbindlicher Auftrag der Sozialpolitik.
Nach Berechnungen des Paritätischen werden noch nicht einmal die eigenen Berechnungsgrundlagen der Bundesregierung korrekt angewandt: Wie die Paritätische Forschungsstelle in ihrer Expertise nachweist, müsste der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen bei korrekter und vollständiger Anwendung des von der Bundesregierung selbst gewählten Statistikmodells zum 1.1.2017 auf 520 Euro statt auf 409 Euro angehoben werden. Die geringe Erhöhung „sozial ignorant. Sie lässt jegliches Verständnis für die Lebenssituation der Betroffenen vermissen. Diese Regelsätze sind kleingerechnete Armutssätze, mit denen man kaum eine Chance hat über den Monat zu kommen." (Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes)[7]
Armut äußert sich jedoch auch in einem umfassenden Mangel an gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten und vielfältigen Formen der Diskriminierung, die gleichzeitig die Suche nach einem Arbeitsplatz erschweren und durchkreuzen. Das Leben der Betroffenen ist vom Kampf gegen fortschreitende soziale Ausgrenzung geprägt.[8]
Das mit den SGB-Reformen neu geschaffene Arbeitsmarktregime, das die Gewährung selbst dieses nackten Existenzminimums an die Einhaltung von Gesprächsterminen und zweifelhaften Bewerbungs-Trainings knüpft, hat nachweisbar kaum zu einem Abbau der Langzeit-Arbeitslosigkeit beigetragen.[9] Scheinbare Verbesserungen in der Statistik sind vielmehr durch ständige Manipulationen an der Datenlage entstanden, wie z.B. der Herausnahme der über 58jährigen. Durch Sanktionsandrohungen wird die Erwerbslosigkeit als Wettbewerb initiiert, in dem der Anspruch auf Hilfsbedürftigkeit stets neu legitimiert werden muss. „Hartz IV sei offener Strafvollzug, meinte dazu kurz und treffend der Multimilliardär Götz Werner, Gründer der dm-Drogeriekette.“[10]
In einer Arbeitsmarktkonstellation, bei der das Arbeitskräfteangebot deutlich größer ist als die Nachfrage, bedeutet dies, dass systematisch Verlierer erzeugt werden. Die Prekarisierten und Ausgegrenzten sehen kaum Möglichkeiten, ihre Lage kollektiv zu verbessern. Sie wähnen sich in einer stigmatisierten Minderheitenposition, die durch die aktivierende Arbeitsmarktpolitik verstärkt, ja geradezu zementiert wird. Je länger diese Situation andauert, desto größer wird der Zwang, sich individuell anzupassen und einen Überlebenshabitus ausbilden zu müssen, der sich für Stigmatisierungen durch die „Mehrheitsgesellschaft“ eignet. Der Soziologe Klaus Dörre sieht darin den Grund, weshalb äußerst heterogene soziale Gruppen gewissermaßen von außen und durch die sogenannte Mehrheitsgesellschaft politisch als neue Unterschicht konstruiert werden.[11]
Durch Sanktionen, die bis hin zur völligen Streichung aller Leistungen gehen, wird das verfassungsgerichtlich bestätigte „Grundrecht auf die Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ verletzt. Besonders erschreckend dabei ist, dass sogar fast alle (96%!) der gesundheitlich Erwerbsgeminderten im ALGII-Bezug von Sanktionen betroffen sind. Der Paritätische Wohlfahrtsverband (und nicht nur dieser) fordert daher zu Recht, das Sanktionssystem ersatzlos abzuschaffen.[12]
Ein Sanktionsmoratorium und eine Abschaffung aller Sonderregelungen für unter-25jährige werden auch von den Grünen immer wieder gefordert.[13] Unser Grundsatzprogramm sagt dazu: „Wege aus der Arbeitslosigkeit und Armut brauchen als Ausgangsbasis eine verlässliche soziale Grundsicherung.“[14] Eine Grundsicherung, die gekürzt werden kann, obwohl die Bedürftigkeit weiter gegeben ist, ist jedoch nicht verlässlich und hilft erwiesenermaßen nicht aus der Arbeitslosigkeit.
Der DGB fordert dem gegenüber finanzielle Anreize für die Weiterbildung bei Langzeitarbeitslosigkeit; denn (Langzeit)Arbeitslose seien das Lernen oftmals nicht mehr gewohnt und könnten es sich kaum leisten, mit den Einkommensverlusten beim Arbeitslosengeld oder Hartz IV für längere Zeit über die Runden zu kommen.
Weiterbildung sollte sich hingegen auch finanziell lohnen. So sollte bei beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen die jeweilige Arbeitslosenunterstützung um mindestens zehn Prozent aufgestockt und eine Abschlussprämie – als Durchhalteprämie – nach erfolgreichem Berufsabschluss gezahlt werden.[15]
[1] Grundsatzprogramm „Die Zukunft ist grün“, 2002, S. 61
[2] Armutsbericht 2016, www.der-paritaetische.de
[3] Vgl. Butterwegge, Christoph: Armut – sozialpolitischer Kampfbegriff oder ideologisches Minenfeld? Verdrängungsmechanismen, Beschönigungsversuche, Entsorgungstechniken; Schneider, Ulrich: Armut kann man nicht skandalisieren, Armut ist der Skandal. Beide Aufsätze in: Ulrich Schneider (Hg.): Kampf um die Armut – von echten Nöten und neoliberalen Mythen. Frankfurt am Main, 2015.
[4] Armutsbericht 2016, S.11
[5]Der Paritätische, Regelsätze 2017: Kritische Anmerkungen zur Neuberechnung der Hartz IV-Regelsätze vom September 2017, S. 5. http://www.der-paritaetische.de/nc/pressebereich/artikel/news/hartz-iv-paritaetischer-fordert-regelsatz-von-520-euro/
[6] Armutsbericht 2016, S. 31
[7] Hartz IV: Paritätischer wirft Bundesregierung statistische Willkür vor und fordert 491 Euro Regelsatz. 28.12.2015 https://www.ptext.de/nachrichten/hartz-iv-paritaetischer-wirft-bundesregierung-statistische-willkuer-491-euro-reg-1039983
[8] nationale Armutskonferenz /AG Grundsicherung: soziale Teilhabe und menschenwürdiges Existenzminimum, Positionspapier 27.1.2014 http://nationalearmutskonferenz.de/data/14-01-27%20nak-Positionspapier%20Existenzminimum%20Teilhabe.pdf
[9] vgl. DGB: arbeitsmarkt aktuell 02/2015: Beschäftigungschancen von Lang- zeitarbeitslosen im Hartz-IV-System nicht verbessert
[10] Jürgen Borchert: Sozialstaats-Dämmerung, München 2014, S. 193
[11] Klaus Dörre: Das neue Elend:
Zehn Jahre Hartz-Reformen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2013, S. 105 f.
[12] Armutsbericht 2016, S. 54 u. S. 4, vgl. Katharina Dröge und Sven-Christian Kindler: Der ökologische Umbau der Wirtschaft geht nur sozial, 28. 4. 2015, www.sven-kindler.de/2015/04/der-oekologische-umbau-der-wirtschaft-geht-nur-sozial
[13] vergl. Teilhabe-Beschluss BDK Nov. 2012 „Eine Gesellschaft für alle“ und Bundestagswahlprogramm 2013
[14] Grundsatzprogramm „Die Zukunft ist grün“, 2002, S. 63
[15] DGB: arbeitsmarkt aktuell 02/2015, S. 14
Weitere Antragsteller*innen
- Katrin Langensiepen (KV Hannover)
- Uwe Dietrich (KV Hildesheim)
- Wolfgang-Strengmann-Kuhn (KV Offenbach-Stadt)
- Thomas Schremmer (KV Hannover)
- Sven-Christian Kindler (KV Hannover)
- Meta Jansen-Kucz (KV Leer)
- Ralph Griesinger (KV Osnabrück Land)
- Corinna Rüffer (KV Trier)
- Christopher Steiner (KV Hannover)
- Hannelore Heideke (KV Hannover)
- Johannes Bartelt (KV Osnabrück Land)
- Helga Mandl (KV Traunstein)
- René Halusiak (KV Mettman)
- Silvia Nadine Halusiak (KV Mettmann)
- Stefanie Aeffner (KV Kurpfalz-Hardt)
- Werner Jülke (KV Paderborn)
- Antje Westhues (KV Bochum)
- Simone Stolzenbach (KV Uelzen)
- Martin Schmitt (KV Mayen-Koblenz)
Änderungsanträge
- SO-02-104 (Brigitte Pothmer (KV Hannover), Eingereicht)
Kommentare
Dr. Thomas Wolff:
Ich habe zum SO-01 einen Kommentar zur Ungerechtigkeit des Anrechnungssystems verfasst, den ich als Änderungsantrag stellen wollte, der aber auch inhaltlich ergänzend gut zu Eurem Antrag passt:
https://bdk.antragsgruen.de/40/Wir_investieren_in_Gerechtigkeit-38726?commentId=593#comm593
Wie es aussieht, bekomme ich womöglich bis Fristende die nötigen Unterstützer nicht mehr zusammen.
Vielleicht mögt Ihr Euch damit kurz beschäftigen und bei Euren Überlegungen berücksichtigen, oder auch mir noch kurzfristig Eure Unterstützung mitteilen, um diese hinsichtlich einer Reform, die Gerechtigkeit zum Ziel hat, schwere Lücke des SO-01 zu schließen.