E-02-001 zu E-02 (vormals V-29): EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei nutzen – Tür für Demokratie, Menschenrechte und europäische Integration offenhalten!

Den gegenwärtig in manchen EU-Mitgliedsstaaten und Parteien öffentlich diskutierten Abbruch,
oder auch ein sogenanntes Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei, lehnen wir
entschieden ab.

Bündnis 90 / Die Grünen stehen für einen EU-Beitritt der Türkei und lehnen den immer wieder geforderten Abbruch der Beitrittsgespräche ab, der vor allem von denjenigen kommt, die die Türkei noch nie in der EU haben wollten. Für eine demokratische und weltoffene Türkei müssen die Türen zur EU offen bleiben.

Wir wollen nicht, dass dieser wichtige Reform- und Verständigungsanker für den Wahlkampf in
Deutschland aus Spiel gesetzt wird! Ja, die Idee einer türkischen EU-Mitgliedschaft ist
derzeit unpopulär wie wohl nie zuvor. Und in der Tat, die Bedingungen für Fortschritte in
den Verhandlungen sind momentan denkbar ungünstig – der Trend in der Türkei geht schon seit
mehreren Jahren weg vom liberal-demokratischen Reformkurs der Vergangenheit.

Deutschland und Europa dürfen in der jetzigen Situation die türkische Opposition und die demokratischen Kräfte in der türkischen Gesellschaft nicht im Stich lassen und müssen den fortschreitenden Abbau des Rechtsstaates und der Demokratie klar benennen und scharf verurteilen. Klar ist, der Abbau von demokratischen Rechten und das willkürliche Vorgehen gegen die Opposition müssen gestoppt werden. Darum ist es richtig, jetzt die Gespräche mit der Türkei über Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Demokratie auf den Verhandlungstisch zu bringen und eine Kursänderung in diesen Bereichen zu verlangen.

Vor allem fordern wir die sofortige Beendigung des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals. Es kann nicht sein, dass wir einem Land wie der Türkei die volle Verantwortung für die Geflüchteten überlassen, einer Regierung, die die Menschenrechte mit Füßen tritt und deren gnadenlose Politik gerade dafür sorgt, dass in der Türkei selbst neue Fluchtgründe entstehen. Nach der Debatte über die „Privilegierte Partnerschaft“ ab 2005 war der Flüchtlings-Deal auch ein weiterer Schlag ins Gesicht für die Reformkräfte, und eine Stärkung für den Entdemokratisierungskurs Erdogans.

Mit der Verknüpfung der Visa-Freiheit mit dem Flüchtlings-Deal werden die Bürger der Türkei zu Geiseln der Allmachtspolitik von Präsident Erdoğan gemacht. Wir fordern die bereits 1963 in Aussicht gestellte und in den Folgejahren mit europäischen Gerichtsurteilen bestätigte Visafreiheit für die Bürger*innen der Türkei ohne weitere politisch motivierte Bedingungen umzusetzen.

Allerdings ist dieDie aktuelle Situation ist nicht im luftleeren Raum entstanden: Das fehlende
positive Engagement der EU seit langem ist einer der Faktoren, die den jetzigen
Verhältnissen den Boden bereitet haben. Es führte zu großer Enttäuschung, und dazu, dass vor
Ort längst niemand mehr daran glaubt, dass das Land je eine faire Beitrittschance hatte.
Nicht zuletzt aufgrund des Beitrittsprozesses hatte die Türkei aber (inkl. unter AKP-
Regierungen) in der Vergangenheit große Anstrengungen unternommen. Er ist nach wie vor der
Referenzrahmen für Dialog und – wo nötig – Kritik.

Ihn einseitig aufzukündigen hieße, ausgerechnet die progressiven Kräfte des Landes im Stich
zu lassen. Gerade deshalb müssen die, wahrscheinlich noch lange dauernden, Verhandlungen
endlich ehrlich, solidarisch und - ausdrücklich ohne Abstriche bei den rechtsstaatlich-
demokratischen Anforderungen einer EU-Mitgliedschaft - mit wirklich offenem Ergebnis geführt
werden. Hierbei braucht es klare Kriterien, die real umgesetzt werden. Gleichzeitig ist es
notwendig, dass die EU ihr außenpolitisches Instrumentarium nicht allein auf den
Beitrittsprozess verengt. Transparente positive und negative Anreize sind notwendig!