Veranstaltung: | 40. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | E Zukunft Europa |
Antragsteller*in: | BAG Frieden & Internationales (dort beschlossen am: 25.09.2016) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 30.09.2016, 08:48 |
E-02 (vormals V-29): EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei nutzen – Tür für Demokratie, Menschenrechte und europäische Integration offenhalten!
Antragstext
Den gegenwärtig in manchen EU-Mitgliedsstaaten und Parteien öffentlich diskutierten Abbruch,
oder auch ein sogenanntes Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei, lehnen wir
entschieden ab.
Wir wollen nicht, dass dieser wichtige Reform- und Verständigungsanker für den Wahlkampf in
Deutschland aus Spiel gesetzt wird! Ja, die Idee einer türkischen EU-Mitgliedschaft ist
derzeit unpopulär wie wohl nie zuvor. Und in der Tat, die Bedingungen für Fortschritte in
den Verhandlungen sind momentan denkbar ungünstig – der Trend in der Türkei geht schon seit
mehreren Jahren weg vom liberal-demokratischen Reformkurs der Vergangenheit.
Allerdings ist die aktuelle Situation nicht im luftleeren Raum entstanden: Das fehlende
positive Engagement der EU seit langem ist einer der Faktoren, die den jetzigen
Verhältnissen den Boden bereitet haben. Es führte zu großer Enttäuschung, und dazu, dass vor
Ort längst niemand mehr daran glaubt, dass das Land je eine faire Beitrittschance hatte.
Nicht zuletzt aufgrund des Beitrittsprozesses hatte die Türkei aber (inkl. unter AKP-
Regierungen) in der Vergangenheit große Anstrengungen unternommen. Er ist nach wie vor der
Referenzrahmen für Dialog und – wo nötig – Kritik.
Ihn einseitig aufzukündigen hieße, ausgerechnet die progressiven Kräfte des Landes im Stich
zu lassen. Gerade deshalb müssen die, wahrscheinlich noch lange dauernden, Verhandlungen
endlich ehrlich, solidarisch und - ausdrücklich ohne Abstriche bei den rechtsstaatlich-
demokratischen Anforderungen einer EU-Mitgliedschaft - mit wirklich offenem Ergebnis geführt
werden. Hierbei braucht es klare Kriterien, die real umgesetzt werden. Gleichzeitig ist es
notwendig, dass die EU ihr außenpolitisches Instrumentarium nicht allein auf den
Beitrittsprozess verengt. Transparente positive und negative Anreize sind notwendig!
Begründung
Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stehen derzeit unter keinem guten Stern. Nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15.7.2016 in der Türkei beobachten viele Menschen in Europa die Situation vor Ort mit großer Sorge. Der einstige Reformwille der türkischen Regierung in Sachen Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechten hat schon lange nachgelassen. Präsident Erdoğan verfolgt das Ziel, sein Amt mit immer mehr Macht auszustatten. Die Presse erlebt Einschränkungen und Repressionen. Ethnische und sonstige Minderheiten sehen sich unter Druck. Der Friedensprozess mit den Kurd*innen ist einer dramatischen Re-Eskalation des Konfliktes gewichen. Gewählte Abgeordnete wurden der Verbindungen zu Terrorismus bezichtigt und ihre Immunität aufgehoben. Seit dem Putschversuch werden zudem in vielen staatlichen Institutionen bereits zehntausende vermeintliche Unterstützer*innen der Gülen-Bewegung entlassen und/oder verhaftet. Der gescheiterte Putschversuch wurde von Erdoğan selbst gar als Gelegenheit, staatliche Institutionen noch mehr auf seine Linie zu bringen, begrüßt. All dies hat eine Annäherung seitens der EU verständlicherweise erschwert.
Wenn wir einen Dialog führen und Konflikte lösen wollen, müssen wir jedoch auch die Perspektive unseres Gegenübers sehen: Auf türkischer Seite herrscht auch außerhalb regierungstreuer Kreise ein großes Befremden über mangelnde Ausdrücke der Solidarität mit der Türkei während und direkt nach den für Viele traumatischen Erfahrungen des Putschversuches, samt vieler unschuldiger Opfer, sowie u.a. der Bombardierung des Parlaments. Dieser Eindruck fügt sich leider nahtlos ein, in die weit verbreitete Wahrnehmung, als Land für die EU oder den Westen insgesamt bestenfalls eine Partnerin zweiter Klasse zu sein. Diese Einschätzung speist sich nicht zuletzt auch aus einem ungewöhnlichen und aus Sicht der Türkei unverdient langen und komplizierten EU-Beitrittsverfahren:
Die Türkei, schon seit 1949 Mitglied des Europarates und seit 1952 der NATO, ist nach einer offiziellen Beitrittsbewerbung zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1959 bereits seit 1963 mit der Vorläuferin der EU vertraglich assoziiert. 1987 folgte das offizielle Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft (EG), obwohl die für davor versprochene Visumsfreiheit für türkische Staatsbürger*innen in die damalige EWU, maßgeblich durch die Regierung Kohl, wieder einkassiert wurde (es sollte nicht das letzte Mal sein). Der Beitrittsantrag wurde 1989 abgelehnt. 1996 trat die Türkei als Schritt in Richtung EU-Beitritt als erstes Land schon vor einer Mitgliedschaft der Zollunion bei, was seither für das Land bedeutet, z.B. zahlreiche Einfuhrregelungen übernehmen zu müssen, ohne in Brüssel über sie mitbestimmen zu können, und teilweise ohne umgekehrt EU-Einfuhrprivilegien in Drittländern zu genießen. Mit steigendem Abstand zum türkischen Militärputsch von 1980, und nicht zuletzt der Unterstützung der damaligen rot-grünen Bundesregierung, wurde der Türkei 1999 offiziell der Status der EU-Beitrittskandidatin zugesprochen.
Auch in den darauffolgenden Jahren wurden (u.a. auch unter der seit 2002 regierenden AKP) mit Blick auf den EU-Beitrittsprozess wichtige Reformfortschritte erzielt: Z.B. wurden die Frauenrechte im Zivilrecht gestärkt, die Todesstrafe wurde abgeschafft, Folter verboten, die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit gestärkt, dem UN-Friedensplan für Zypern zugestimmt, der Gebrauch der kurdischen Sprache legalisiert bzw. gefördert, und das Strafrecht reformiert – auch wenn bei der praktischen Umsetzung vieler dieser Vorhaben, z.B. im Bereich der Minderheitenrechte, noch viele Probleme bestehen. Erst seit 2005, d.h. 46 Jahre nach dem Beitrittsantrag in die EWG, und nach der letzten großen EU-Erweiterungsrunde, wird jedoch überhaupt offiziell verhandelt. Und dabei musste die Türkei neben den von ihr selbst zu erfüllenden Beitrittskriterien auch eine bis dato einmalige, zusätzliche ‚Prüfung der wirtschaftlichen und politischen Aufnahmefähigkeit‘ der EU, und somit höhere Hürden als jede andere Beitrittskandidatin, akzeptieren.
Der Beitritt, und auch die für ihn nötigen und in den folgenden Jahren weiter verfolgten Veränderungen, genossen in der Türkei seinerzeit trotz dieser widrigen Bedingungen laut Umfragen meist hohe öffentliche Unterstützung – was sich jedoch zunehmend änderte, als führende konservative europäische Politiker*innen (allen voran Sarkozy und Merkel) mit zunehmendem Fortschritt der Gespräche immer aggressiver (teils in der Tat noch vorhandene) Mängel anstatt Fortschritten hervorhoben. Sie unterminierten einen EU-Beitritt der Türkei systematisch, z.B. indem sie vermeintliche geographische EU-Mitgliedschaftskriterien ins Spiel brachten, die Idee eines großen, überwiegend muslimischen EU-Mitgliedslandes mehr oder minder offen in Frage stellten, die Angelegenheit zum Wahlkampfthema machten und statt eines Beitritts bestenfalls noch von undefinierten Alternativen wie der sogenannten „privilegierten Partnerschaft“ sprachen. Währenddessen wurde mit anderen EU-Beitrittskandidat*innen, die in der Wahrnehmung vieler Türk*innen an ihrem Land ‚vorbeizogen‘ und Mitglied wurden, oder auch mit Nicht-Mitgliedern auf dem Balkan, die mittlerweile Visumsfreiheit erhielten, vergleichsweise nachsichtig umgegangen. Einen Schub im Beitrittsprozess der Türkei sollte es erst wieder als Gegenleistung für den aktuellen Flüchtlingspakt geben. Die Tatsache, dass vorher aufgeführte Hinderungsgründe bzgl. Demokratie und Menschenrechte angesichts realpolitischer Interessen der EU plötzlich keine Rolle mehr spielten, war Wasser auf die Mühlen der türkischen Führung, die Europa Doppelzüngigkeit vorwirft.
All dies wurde in der Türkei (wie auch unter türkischstämmigen Menschen hierzulande) sehr genau registriert. Es schien die lange gehegte Sorge weiter zu bestätigen, eigentlich von vorneherein keine Chance auf einen EU-Beitritt zu haben, was in der Folge die Zustimmungswerte für letzteren dramatisch sinken ließ. Auch die Reformanstrengungen der AKP-Regierungen ließen Schritt für Schritt nach oder kehrten sich seither teilweise ins Gegenteil. Auf die EU muss Präsident Erdoğan dabei immer weniger Rücksicht nehmen. Grund dafür ist nicht nur die Tatsache, dass die EU sich zuletzt aus Unvermögen, eine mit ihren eigenen proklamierten Werten konforme und solidarische Flüchtlingspolitik zu verfolgen, von ihm abhängig gemacht hat. Es ist auch, und vor allem schon länger, dass der öffentliche Glaube an eine Chance auf EU-Beitritt, und somit ein mächtiges Argument für Reformen, angesichts fortlaufender Enttäuschungen und der Wahrnehmung einer ungerechten Behandlung durch Brüssel, schlicht abhandengekommen scheint.
Jüngste Äußerungen konservativer europäischer Politiker*innen, z.B. aus der traditionell Türkei-skeptischen österreichischen Regierung, man müsse den Beitrittsprozess nun abbrechen, wirken wie eine weitere Bestätigung dieser Wahrnehmung. Das Ergebnis ist vorhersehbarer Stillstand bzw. für die türkische wie auch europäische Gesellschaft(en) gefährlicher Rückschritt: Die türkische Führung wird zunehmend unzugänglich für Kritik und koppelt das Land ab, zum Schaden gerade der vor Ort durchaus vorhandenen progressiven Bewegungen. Unterdessen können in der EU erstarkende rechtspopulistische Kräfte mit der Auffassung, der Islam gehöre nicht zu Europa, sich aus dem reichen Fundus der im Fall Türkei jahrelang durch Sarkozy, Merkel & Co. Raum gegebenen Scheinargumente bedienen. Letztere drohen dabei von den pöbelnden Neulingen auch noch den Rang abgelaufen zu kriegen, weil sie sich um den Flüchtlingspakt zu wahren auch mit berechtigter Kritik an der türkischen Regierung zurückhalten. Hierbei droht uns allen ein Teufelskreis, in dem sich Reaktionäre auf beide Seiten, letztlich auf Kosten der Demokratie in der Türkei wie in der EU, jeweils mit internen Widersacher*innen überbieten und gegenseitig bestätigen.
Mit seiner Haltung gegenüber der Türkei bringt sich die EU schon lange in Zwickmühlen, deren Ausgang meist nur die weitere Schwächung eigener demokratischer Werte, Verstimmung in der Türkei, und letztlich oft sogar beides bedeuten kann. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist neben dem Flüchtlingsabkommen selbst auch die Frage der Visafreiheit, die Präsident Erdoğan heute für den Bestand des Abkommens fordert. Die türkische Öffentlichkeit weiß er dabei hinter sich: Das Versprechen der Visafreiheit wurde ihr gegenüber von der EU und ihren Vorläuferinnen in all den Jahren schon so oft gemacht und wieder einkassiert (während sie umgekehrt schon lange für EU-Bürger*innen in der Türkei gilt), dass sie selbst gegen das sehr handfeste Auftreten Erdoğans zu ihrer Erreichung nun wenig einzuwenden haben dürfte. Das Dilemma: Hätte er zu seinen Bedingungen Erfolg in dieser Frage, so wäre dies ein fatales Signal – die Visumsfreiheit selbst aber, und damit die Förderung des Austausches zwischen der Türkei und der EU, wäre sowohl gesellschaftlich wie auch wirtschaftlich schon lange ein wichtiges und dringend benötigtes Instrument der Annäherung gewesen. Nun ist sie zum symbolisch aufgeladenen Zankapfel geworden, der den Menschen in der Türkei entweder wie seit Jahrzehnten weiter vorenthalten wird, oder, falls durchgesetzt, vom starken Mann Erdoğan als große Trophäe und Bestätigung seines unnachgiebigen Kurses verkauft werden wird.
Kritik an türkischer Regierungspolitik ist möglich, und derzeit auch sehr nötig. Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu positivem Wandel beiträgt viel höher, wenn die Menschen in der Türkei den Eindruck haben, dass der EU dabei wirklich an ihnen, sowie an seinen eigenen, oft proklamierten demokratischen Werten gelegen ist. Daher sollten wir auch mit eigenen, europäischen Verfehlungen offen umgehen, sowie auch im eigenen Interesse alles tun, endlich echte, ergebnisoffene Gespräche zu führen. Die Türkei ist eines der wichtigsten Nachbarländer der EU, mit zahlreichen Verbindungen, wirtschaftlich und kulturell und nicht zuletzt über all die Menschen mit türkischen Wurzeln, die auch in Deutschland leben. Konflikte in der Türkei werden zwangsläufig auch immer uns nahe sein, weshalb wir ein großes eigenes Interesse an einer demokratischen, rechtsstaatlichen Stabilisierung des Landes, wie sie ein glaubhafter Beitrittsprozess befördert, haben.
Wir bilden uns zwar nicht ein, dass allein die Haltung der EU über den Zustand der türkischen Demokratie entscheidet – jedoch kann sie stets ein wichtiger Faktor sein. Denn ebenso gefährlich wie die Illusion, dass die Türkei in ihrem aktuellen Zustand schon demnächst EU-Mitglied werden kann, ist die Illusion, dass EU-Verhalten an den Entwicklungen vor Ort in den letzten Jahren völlig unschuldig ist, bzw. dass der Türkei bisher ein fairer und komplett offener Verhandlungsprozess zugestanden wurde. Deshalb: Stehen wir trotz des erwartbaren Gegenwindes dafür ein, einen solchen endlich wirklich zu wagen, bevor es zu spät ist. Dies kann nicht annähernd so schädlich sein wie das aktuelle Abrutschen in einen türkisch-europäischen Dauerkonflikt fortzusetzen, der auf beiden Seiten nur die Rechtspopulist*innen stärkt. Selbst ein letztliches Scheitern der Gespräche wäre nach einem ausdauernden, fairen und echten Versuch besser als unter aktuellen Bedingungen: Wenn Präsident Erdoğan und die AKP, oder eine andere türkische Regierung, auch für eine wirklich glaubwürdige und faire Beitrittsperspektive nicht bereit sind die Bedingungen zu erfüllen, so sollen sie dies wenigstens vor den Türkinnen und Türken selbst rechtfertigen müssen anstatt weiter die Schuld auf eine unaufrichtige oder gar fremdenfeindliche EU schieben zu können. Dafür muss der Beitrittsprozess und seine Anforderungen transparenter werden. Dabei darf es nicht allein beim Abhaken von Kriterienkatalogen bleiben – was zählt ist die glaubwürdige Umsetzung von Reformen im Land. Entsprechende Fortschritte sollten von der EU genauso belohnt werden, wie deutliche Rückschritte Auswirkungen haben sollten, z.B. in der Höhe von gewährten Finanzmitteln zur Beitrittsanpassung oder im Grad der Autonomie bei der Mittelverwendung.
Gerade aus Solidarität mit der Türkei wollen wir – im Ton verständnisvoller für ihre Erfahrungen, in der Sache aber klar – eben keine Abstriche bei den demokratie- und menschenrechtsbezogenen Beitrittskriterien machen. Wenn es bei den Verhandlungen keine Fortschritte gibt, gibt es keine Fortschritte. Dafür muss man aber auch nicht offiziell Gespräche „aussetzen“ oder „einfrieren“. Vor dem Hintergrund der aktuellen türkisch-europäischen Spannungen könnte eine solche, ohnehin eher symbolische Geste leicht eine Dynamik in Gang setzen, die Gräben vertieft und weitere Brüche nahelegen würde. In solch einem Klima wäre es auch hierzulande kaum möglich, ausreichend Unterstützung für eine Wiederaufnahme einmal abgebrochener Verhandlungen zu erhalten. Die Prophezeiung der Zweifler*innen an der Integration eines mehrheitlich muslimischen Landes in unser großes europäisches Friedensprojekt könnte sich so vollends selbst erfüllen. Dies, und all seine schrecklichen Implikationen für die Türkei, wie auch für den Charakter der Europäischen Union und unser Zusammenleben in Deutschland, zu verhindern, sehen wir zusammen mit unseren Freundinnen und Freunden vor Ort als unsere große, gemeinsame Aufgabe. Packen wir sie an.
Änderungsanträge
- E-02-001 (Claudia Roth (KV Augsburg-Stadt), Eingereicht)
- E-02-001-2 (Berivan Aymaz (KV Köln), Eingereicht)
- E-02-007 (BAG Europa (dort beschlossen am: 16.10.2016), Eingereicht)
Kommentare
Hasan Eker:
Die Mehrheit der Türken/Innen in der Türkei, aber auch in Deutschland hat gar kein vertrauen mehr in die EU und vor allem Deutschland! Der Zug ist endgültig abgelaufen, wenn nicht zum 31.10.2016 bedingungslos die Visafreiheit kommt!
Ohne wenn und aber...