Veranstaltung: | 40. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Omid Nouripour ((KV Frankfurt am Main)) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 05.11.2016, 20:19 |
V-69: Dringlichkeitsantrag: Syrien und Irak: tun, was möglich ist. Humanitäre Hilfe leisten - politische Lösung voran bringen
Antragstext
In Syrien, Irak und der Region eskaliert eine humanitäre Katstrophe von schockierendem
Ausmaß. Wir erleben entgrenzte Gewalt mit über einer halben Millionen Toten und mit 12
Millionen Syrer*innen und 5 Millionen Iraker*innen auf der Flucht. Aus der brutalen
Bekämpfung des Bürgerprotests durch Assad in Syrien und den Folgen der fehlgeleiteten
Invasion im Irak haben sich Stellvertreterkriege regionaler und globaler Machtinteressen
entwickelt. Bündnis 90 / Die Grünen blicken mit großer Sorge auf das Scheitern von mehreren
UN-Sondergesandten für Syrien, das Scheitern einer inklusiven Regierung im Irak und den
Aufstieg von ISIS/Daesh.
Im Zentrum unseres Engagements für die Region steht das Ziel, Frieden für die Syrer*innen
und Iraker*innen zu erreichen. Wir kritisieren, dass es im Ringen um Lösungen manchmal nur
noch darum zu gehen scheint, auf welcher Seite man steht: USA oder Russland, Saudi-Arabien
oder Iran, Sunniten oder Schiiten, Türkei oder Kurden, syrische Kurden oder irakische
Kurden. Außerdem werden durch den angeblich gemeinsamen Kampf aller Akteure gegen ISIS/Daesh
Fakten geschaffen, die die eigentlichen Konfliktursachen nicht angehen sondern verschärfen.
Die Ursachen der Konflikte in Syrien und Irak mögen vielschichtig und unterschiedlich sein,
für alle gilt aber: Es braucht eine politische Lösung für die gesamte Region.
Und auch wenn es schwerfällt, müssen wir leider einsehen, dass wir von Deutschland oder
Europa aus alleine den Konflikt nicht lösen und das Morden enden werden können. Aber die
Handlungsmöglichkeiten die wir haben, sollten wir in vollem Umfang ausschöpfen, um unseren
Beitrag für einen Frieden in Syrien und Irak zu leisten.
Wir GRÜNE haben intensiv über den Umgang mit den entstandenen Konflikten und deren mögliche
Deeskalation gerungen und haben immer wieder zum Frieden in der Region, zu einer humanitären
Offensive sowie zu einer politischen Lösung aufgerufen und Konzepte dafür vorgelegt.[1] Für
uns ist die Suche nach einer Lösung dieser Konflikte Ausdruck unserer internationalen
Verantwortung, die wir nicht erst angefangen haben wahrzunehmen, als viele der Geflüchteten
nach Europa kamen, um hier Zuflucht zu suchen. Aktuell schauen wir mit Entsetzen auf die
menschenverachtende Belagerungssituation um Aleppo in Syrien und mit Sorge auf Mossul im
Irak angesichts der militärischen Offensive. Auch wenn die Konflikte um die beiden Städte
unterschiedlich gelagert sind, so kann man doch an beiden wie unter einem Brennglas
erkennen, was das Drama der gesamten Region ausmacht.
Kämpfe um Aleppo umgehend beenden
Nirgendwo werden die humanitäre Katastrophe und der rücksichtlose Kampf auf dem Rücken der
Zivilisten derzeit sichtbarer als in Aleppo. Nach Einschätzung des Nothilfekoordinators der
Vereinten Nationen Stephen O'Brien durchleidet die Stadt seit Monaten eine „humanitäre
Katastrophe, wie sie in Syrien noch nicht erlebt worden ist“. Mehr als 250.000 Menschen sind
von allen notwendigen Gütern abgeschnitten, während die militärische Auseinandersetzung
immer heftiger wird. Dass sich im Ostteil der Stadt auch Islamisten verschanzt haben und
dass auch sie Kriegsverbrechen begehen, rechtfertigt in keiner Weise Kriegsverbrechen wie
die Bombardierung ziviler Gebiete, unter anderem von Krankenhäusern und Schulen, mit Streu-,
Brand und bunkerbrechenden Bomben und die Verhinderung des Zugangs für humanitäre Hilfe.
Diese Verbrechen werden durch die Truppen Assads mit Unterstützung Russlands während der
Belagerung begangen. Der Sicherheitsrat ist deswegen blockiert, und die zahlreichen Aufrufe
des VN-Generalsekretärs, den Sondergesandten für Syrien und Hilfsorganisationen zu einer
dauerhaften Waffenruhe, den garantierten Schutz und die Notversorgung von Zivilist*innen
sowie konstruktive Friedensgespräche wurden von den Kriegsparteien bislang weitestgehend
ignoriert. Dennoch ist die internationale Gemeinschaft im fünften Jahr nach Kriegsausbruch
mehr denn je gefragt, den Menschen in Syrien zu helfen.
Bündnis 90 / Die Grünen verurteilen aufs schärfste die Verbrechen, die an Zivilist*innen in
Syrien verübt werden. Die Bombardierung von Krankenhäusern, Angriffe auf Hilfstransporte und
deren Blockade und damit verbunden die Tatsache, dass knapp 700.000 Zivilist*innen in
belagerten Orten von nahezu jeglicher humanitären Hilfe abgeschnitten werden, sind
Kriegsverbrechen und müssen auch so benannt werden. USA und Russland müssen umgehend die
Gespräche zu einer dauerhaften Beendigung der Kämpfe in Syrien wiederaufzunehmen und das
Waffenstillstandsabkommen vom 12. September 2016 muss wieder in Kraft gesetzt werden.
Eine politische Lösung für Syrien voranbringen
Der politische Druck auf alle Kriegsparteien muss in Syrien weiter erhöht werden. Dies gilt
vor allem für Russland, da Putin dafür sorgt, dass Assad den Krieg gegen Teile der syrischen
Bevölkerung weiter führen und schwerste Kriegsverbrechen begehen kann: Aushungern und
politische Säuberungen als Strategie, Verweigerung von humanitärer Hilfe für Zivilist*innen,
den Abwurf von bunkerbrechenden, Fass-, Brand- und Chemiebomben (letztere trotz
Einwilligung, diese zu vernichten) auf Wohnviertel und Folter in staatlichen Gefängnissen.
Russland unterstützt das Regime und macht die Kriegsverbrechen erst möglich, anstatt seinen
Einfluss hin zu einer Lösung des Konflikts geltend zu machen. Wir fordern, dass diese
Verbrechen klar benannt werden.
Wir sollten uns im Rahmen der EU auf Maßnahmen einigen, die den notwendigen Druck auf
Russland ausüben können, um weitere Verbrechen an syrischen Zivilist*innen zu verhindern.
Gleichzeitig muss klargemacht werden, dass keine Partei, die für Kriegsverbrechen
verantwortlich ist, mit einem moralischen Rabatt rechnen kann.
So müssen auch die Bombardierungen von Stellungen syrischer Regime-Truppen nahe Deir-ez-Zor
durch die USA während des Waffenstillstandes am 12. September kritisiert und aufgeklärt
werden. Der Vorfall hat die Lage verschärft und darf sich nicht wiederholen.
Wir GRÜNE haben uns in der Vergangenheit für die Möglichkeit einer „Uniting for Peace“-
Resolution für Syrien ausgesprochen. Wir begrüßen deshalb die kanadische Initiative, eine
„Uniting for Peace“-Resolution in der VN-Generalversammlung zu erwirken, um an Stelle des
blockierten Sicherheitsrates Maßnahmen für Syrien zu beschließen. Wir fordern darüber
hinaus, bereits heute die Vorbereitungen für ein Syrien nach dem Krieg zu treffen. Es muss
Formate der Versöhnung und rechtlichen Aufarbeitung geben sowie eine Garantie für faire,
unabhängige Gerichtsprozesse geben. In einer politischen Lösung muss es um die
Beteiligungsrechte alle Syrer ohne Diskriminierung und um Gerechtigkeit gehen. Rache- und
Vergeltungsakte müssen unbedingt verhindert werden – eine politische Lösung muss dafür Sorge
tragen, dass alle Zivilist*innen gleichbehandelt werden. Dies ist langfristig mit Assad an
der Spitze des Staates nicht möglich.
Mossul darf nicht Spielball der Regionalmächte werden
Mit dem Sturm auf Mossul wird ISIS/Daesh hoffentlich die wichtigste Bastion seiner
Staatlichkeit verlieren. Und auch wenn es gut ist, wenn ISIS/Daesh hier geschlagen wird, so
drohen in Mossul heute schon die Grundlagen für den nächsten Brandherd gelegt zu werden.
Mossul darf nicht zum Spielball der Regionalmächte werden. So will die irakische Regierung
mit der Unterstützung der iranischen Regierung und mithilfe schiitischer Milizen Mossul, die
Hochburg der Sunniten im Irak. Diese sind für ihr rücksichtsloses Vorgehen gegen Sunniten
bekannt. Die irakischen Kurden werden von Saudi-Arabien unterstützt, das auf diese Weise
seinen Kampf um regionale Dominanz mit den Schiiten fortführt. Auch Erdogan unterstützt die
Kurden, ohne dafür die Erlaubnis der irakischen Regierung zu haben, auf irakischem Gebiet
einzugreifen. Das ist eindeutig völkerrechtswidrig. Gleichzeitig bildet die Türkei
sunnitische Milizen aus, die auch an dem Sturm aus Rakka beteiligt sind. Hinzu kommt, dass
Mossul bereits vor der Besetzung durch ISIS/Daesh außerhalb der Kontrolle der irakischen
Zentralregierung lag und es bereits 2012 Berichte von Vertreibungen der Christen Mossuls
gab. Die Befreiung Mossuls mag militärisch erreichbar sein, die Befriedung und
Stabilisierung nach ISIS/Daesh ist aber nur mit einer politischen, von allen Parteien
mitgetragenen Lösung möglich.
Wir GRÜNE fordern, mit allen Mitteln einer weitsichtigen und inklusiven Diplomatie Druck auf
die beteiligten Parteien auszuüben, damit Mossul nicht das nächste Kapitel des zynischen
Stellvertreterkriegs dieser Region wird. Es braucht eine enorme humanitäre Offensive, um die
bis zu 1,2 Millionen Flüchtlingen menschenwürdig zu versorgen. Und wir fordern, die Kräfte
zu stärken, die glaubhaft für eine inklusive Zukunft des Iraks eintreten.
Humanitäre Offensive für die Region
Derzeit benötigen 13,5 Millionen Menschen in Syrien und über 10 Millionen im Irak humanitäre
Hilfe. Der Etat für humanitäre Hilfe für 2017 muss dringend erhöht werden. Es ist fatal und
unverständlich, dass der Etatentwurf für 2017 eine Kürzung der Gelder für humanitäre Hilfe
um 400 Mio. Euro vorsieht während wir solch einer humanitären Katastrophe gegenüberstehen.
Die Bundesregierung muss den internationalen Hilfsorganisationen Planungssicherheit geben
und Gelder realistisch veranschlagen, damit wir unserer moralischen und völkerrechtlichen
Verantwortung in Syrien und in Mossul nachkommen können. Außerdem fordern wir ein
großzügiges und nachhaltiges Resettlement-Programm für den Irak und die Nachbarstaaten
Syriens in die EU. Der Familiennachzug für syrische Flüchtlinge muss wieder im vollen Umfang
möglich werden.
Sehr besorgt sind wir über Vorwürfe gegen die VN, wonach diese zu eng mit dem syrischen
Regime zusammen arbeiten. Fast ausschließlich Menschen in den von Assad kontrollierten
Gebieten erhalten humanitäre Hilfe. 4,5 Millionen Menschen in schwer zu erreichenden
Gebieten brauchen dringend humanitäre Versorgung, fast eine Million davon unter Belagerung.
Das syrische Regime darf nicht länger verhindern, dass Hilfslieferungen wirklich und
flächendeckend bei den notleidenden Menschen ankommen. Humanitäre Hilfe darf nicht als
Kriegsstrategie missbraucht werden.
Wir unterstützen daher eine Evaluation des bisherigen humanitären Engagements, damit die VN
sich weiterhin auf ihre Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität berufen können und
Missstände gegebenenfalls behoben werden. Die Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der VN
sind essentiell, sonst verlieren wir eines der wichtigsten Instrumente der Verständigung,
Konfliktlösung und humanitären Hilfe.
Es reicht nicht, dass wir einer der größten Geber für Syrien sind – wir müssen auch bereit
sein, die Maßnahmen, welche dieses Geld ermöglicht, durchzusetzen. Darum müssen die VN-
Resolutionen umgesetzt werden, um humanitäre Hilfe auch gegen den Willen Assads leisten zu
können. Die Bundesregierung muss sich stärker dafür einsetzen, dass dies auch passiert. Wir
fordern deshalb von der Bundesregierung, sich zusammen mit ihren Partnern an ihre eigene
Zusage im Rahmen der International Syria Support Group (ISSG) zu halten. Die Staaten der
ISSG müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Vereinten Nationen und das World
Food Programme unterstützen, eine Luftbrücke für alle notleidenden Menschen in Syrien
einzurichten.
Wir setzen uns dafür ein, dass die Menschen, die vom Assad-Regime belagert und aus den
Rebellengebieten vertrieben werden, registriert und versorgt werden können. Daraya darf sich
nicht wiederholen: 2.000 Menschen wurden vertrieben und wir wissen bis heute nicht, was mit
ihnen passiert ist. In Mossul drohen ähnliche Szenarien. Die VN müssen entsprechend
finanziell, personell und rechtlich ausgestattet werden, damit Zentren für die Registrierung
eingerichtet werden und die Menschen im Anschluss Versorgung erhalten können. Eine Rückkehr
muss nach Ende der Kampfhandlungen möglich sein.
Wir GRÜNE werden uns weiterhin bestimmt für eine friedliche Zukunft der Region einsetzen.
Gerade jetzt darf nicht weggeschaut oder vor den scheinbar unlösbaren Problemen kapituliert
werden. Wir müssen zusammen die Möglichkeiten und Mittel, die uns zur Verfügung stehen,
nutzen, um das tägliche Leid der Menschen zu lindern und eine langfristige politische Lösung
voranzutreiben.
[1] 2011 in Kiel: „Das Regime in Syrien international isolieren – Die syrische Opposition
unterstützen“; 2012 in Hannover: „Für eine friedliche, freie und demokratische Zukunft
Syriens“; 2013 in Berlin: „Friedensprozess in Syrien unterstützen“; 2014 in Dresden:
„Syrienkrise: Die Augen vor der humanitären Katastrophe in der Region nicht verschließen“
sowie in Hamburg: „Europäische Friedenspolitik Warum wir europäisches Engagement in der Welt
brauchen“ und „Europäische Friedenspolitik BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN helfen den Menschen in
Kurdistan, dem Irak und Syrien!“; und 2015 in Halle: „Lokal und global: Fluchtursachen
angehen statt Symptome bekämpfen“, „Nous sommes unis - Mit Besonnenheit und Solidarität
gegen die Angriffe auf Freiheit und Demokratie“ und „Für Frieden und Freiheit in der Türkei“
Begründung
erfolgt mündlich
Begründung der Eilbedürftigkeit: Die Antragsfrist für eigenständige Anträge zur BDK ist am 30. September 2016 abgelaufen. Die Situation vor Ort ändert sich derzeit nahezu täglich. Gravierende Beispiel hierfür sind der Beginn der militärischen Operation in Mossul sowie die die Zuspitzung der humanitären Situation in Aleppo. Daher will der Antrag eilbedürftig eingereicht.
Weitere Antragsteller*innen
- Claudia Roth (KV Augsburg)
- Dr. Franziska Brantner (KV Heidelberg)
- Dr. Frithjof Schmidt, (KV Bochum)
- Peter Heilrath (KV München)
- Katrin Göring-Eckardt (KV Gotha)
- Dr. Anton Hofreiter (KV München-Land)
- Dr. Simone Peter (KV Saarbrücken)
- Cem Özdemir (KV Stuttgart)
- Dr. Robert Habeck (KV Flensburg)
- Agnieszka Brugger (KV Ravensburg)
- Jürgen Trittin (KV Göttingen)
- Luise Amtsberg (KV Kiel)
- Erik Marquardt (KV Friedrichshain-Kreuzberg)
- Karl-Willhelm Koch (KV Vulkaneifel)
- Viola von Cramon (KV Göttingen)
- Sara Nanni (KV Münster)
- Eike Hallitzky (KV Passau-Land)
- Ute Koczy (KV Lippe)
- Mona Neubaur (KV Düsseldorf)
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